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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 42.1926-1927

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Schumann, Paul: Internationale Kunstausstellung Dresden 1926
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Westecker, Wilhelm: Die Neue Sachlichkeit: Probleme des Nachexpressionismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.14162#0023

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kranke Mädchen", „FraumitKindin der Klinik"
vertreten seine Anfänge sehr gut. Dänemark hat
nichts Bedeutendes im Modernen aufzuweisen:
von Bildhauern wohl Frau Kai Nielsen. Bei den
Finnen ist der bisher bei uns unbekannte Tyko
KonstantinSallinen mitsieben Bildern: „Frauen-
bad", „Tanz", die „Hihhuliten" u.a. als hervor-
ragend zu bezeichnen. Den russischen Saal be-
herrschen sehr glücklich die fünf großen Bilder
„Spanierinnen" von Natalie Gontscharowa.
Ferner sehen wir hier u. a. die temperamentvolle
„Amazonenschlacht" von Wladimir von Bech-
tajeff und sechs Bilder aus Privatbesitz von
Marc Chagall, die seine Absichten und Aus-
Führungen gut vertreten. Die fünfzig Bilder
der Russen geben im übrigen mehr die Kunst
von Russen im Auslande als bodenständig rus-

sische Kunst wieder. Eine besondere Leistung
ist aber El Lissitzkys konstruktiver Raum für
die Konstruktivisten. Daneben liegt, von Ge-
mäldesälen umgeben, Tessenows sehr origineller
heiterer himmelfreier Erholungsraum.
Zur eingehenderen Besprechung der Plastik
blieb uns für heute kein Raum. Die Internatio-
nale Ausstellung dieses Jahres aber setzt Dres-
den wieder einmal an die Spitze der deutschen
Ausstellungsstädte. Sie liefert jedenfalls den
Beweis, daß der moderne Gedanke in allen
Kulturländern Fuß gefaßt hat. Wer mit der
Kunst leben will, muß sie gesehen haben,
denn so leicht kann man die bedeutsamen
Bekenner der Modernität nicht wieder bei-
sammen sehen.

Paul Schumann

DIE NEUE SACHLICHKEIT
PROBLEME DES NACHEXPRESSIONISMUS

Der Expressionismus hat sich in seiner Ek-
stase festgelaufen. Der subjektive Rhythmus
als ausschließlicher Maßstab des Lebens trägt
nicht für alle Zeit. Die verleugnete objektive
Welt will nicht ewig unter dem Gesichts-
winkel der typischen Erscheinung betrachtet
werden. Die bunte Vielfältigkeit des Lebens
verlangt ihr Recht. Nicht Typus, sondern Cha-
rakter heißt jetzt die Losung; Typus: das ist
die Summe der das Wesen einer Menschen-
gruppe bestimmenden allgemeinen Züge, Cha-
rakter: die Summe der einmaligen Züge eines
besonderen Einzelmenschen. Der Typus ist in
der künstlerischen Darstellung ein Erzeugnis
subjektiven Eigenwillens, die Vergewaltigung
des objektiven Daseins durch die Willkür per-
sonlicher Vision. Der Expressionismus verherr-
lichte den Menschen, den Schmied, den Holz-
fäller, zwang ihnen Stil und Rhythmus seines
Lebensgefühls auf, ja er gestaltete und ver-
lebendigte sogar abstrakte Gefühls- und Denk-
inhalte: den Frühling, den Tag, den Haß, Er-
scheinungen der Landschaft: den Baum, die
Straße.

Diese ungeheure Intensivierung des Lebens-
gefühls stürzte in immer neue Spannungen und

Explosionen, sah schließlich in der objektiven
Welt nur noch geometrische Experimente ihrer
räum- und zeitlosen Phantasie. Der Expressio-
nismus begann — nach dem Impressionismus
sehr begreiflich — mit der Sehnsucht nach Ge-
stalt, dem Wesen der Menschen und Dinge und
verlor sich gegen sein Ende hin fast völlig in
dem Getriebe einer entfesselten Welt, der nur
noch mechanische Kräfte zugrunde zu liegen
schienen. Die stärksten expressionistischen
Künstler freilich machten diese Experimente
nicht mit. Aber sie vermögen natürlich die Ent-
wicklung nicht aufzuhalten, die aus dieser dra-
matisch gesteigerten, werdenden Welt wieder
in die zuständliche Ruhe einer ausgeglichenen
Reife strebt, aus dem Brand der inneren Ek-
stasen und Leidenschaften in die stille sonnige
Landschaft seelischen Gleichgewichts.
So kommt eine Kunstrichtung herauf, die dem
Expressionismus das leidenschaftliche Gefühl
Für das Wesentliche, dem Impressionismus das
glühende Temperament des Blicks, dem Natu-
ralismus eines Leibi die Sachlichkeit und Sorg-
falt der Konturen- und Flächenbehandlung ver-
dankt. Man sucht nicht mehr das allgemeine,
absolute, unpersönlich-typische und symbo-

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