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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 42.1926-1927

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Gogh, Vincent van: Vincent van Gogh - über die Aufgaben der Malerei
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Krannhals, Woldemar Alexander: Sehen und Schauen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14162#0216

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FR. AYINCKLER-TANNENBERG. ILLUSTRATIONEN ZU REUTERS „ENTSPEKTER BRAESIG"

Akademieausstellung, Berlin

spiel einer hal einen glänzenden Farbenauftrag
und es fehlt ihm an Ideen, jener hat eine Über-
fülle von ganz neuen dramatischen oder heiteren
Eingebungen, ihm fehlt aber die richtige Form,
sie wiederzugeben. Grund genug, um den
Mangel an Korpsgeist bei den Künstlern zu
beklagen, die einander kritisieren, befehden,
glücklicherweise ohne einander vernichten zu
können. Du findest dies alles wohl banal?
Wer weiß! Aber die Sache an sich, die Mög-
lichkeit einer Renaissance, das ist doch gewiß
keine Banalität!

Es tut mir manches Mal leid, daß ich mich nicht

dazu entschließen kann, mehr zu Hause und aus
dem Kopf zu arbeiten. Sicherlich ist die Phan-
tasie eine Fähigkeit, die man entwickeln muß.
denn sie allein setzt uns in Stand, eine begeistern-
dere und tröstlichere Y\ elt zu erschaffen,als wir
mit einem flüchtigen Blick auf dieY\ irklichkeit,
die sicli stets wandelt und schnell wie der Blitz
vorübergeht, auffassen können. Y\ iegern würde
ich einmal versuchen, den Sternenhimmel zu
malen! Und ebenso am Tage eine Wiese, voll-
besät mit Löwenzahn! Wie soll einem aber das
gelingen, wenn man sich nicht dazu entschließt,
zu Haus und nach der Phantasie zu arbeiten.

SEHEN UND SCHAUEN

Y\ as Sehen ist, braucht kaum einem Kinde ge-
deutet zu werden, wenngleich schon zwischen
Sehen und Sehen eine große Zahl von Uber-
gängen liegt, die vom bloßen Wahrnehmen mit
den Augen bis zum künstlerischen Sehen die
Treppe der Genauigkeit, Deutlichkeit, des Or-
ganischen, des Geformten bauen. Dem Tier am
nächsten stehend ist das rein passive Sehen,
dem Künstler gestaltet es sich zum höchsten,
zum aktiven Sehen, das im Mannigfaltigen das
Besondere erblickt. Der Künstler kann so eigent-
lich als „Fachmann" im Sehen gewertet werden,
gegenüber den Dilettanten, die alle Nichtkünst-

ler mehr oder weniger auch im Sehen sind.
Diese Passivität und Aktivität im Sehen muß
erst einmal klar vor Augen stehen, um das
Schauen in seiner anderen V\ esenhaftigkeit zu
erfassen. Einem jeden von uns ist nur das Man-
nigfaltige der Erscheinung sinnlich gegeben, wir
nehmen es wahr in tausenderlei Gestalt: erst
indem wir auf ein Besonderes unsere Aufmerk-
samkeit richten, gelangen wir vom passiven zum
aktiven Sehen. Erst dann aber, wenn Sinne und
Verstand das Besondere, das in allem Mannig-
faltigen ist, erblickt haben, wahrgenommen
haben, vermag die Vernunft das Allgemeine im

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