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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 42.1926-1927

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Roh, Franz: Henri Rousseaus Bildform und Bedeutung für die Gegenwart
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https://doi.org/10.11588/diglit.14162#0121

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HENRI ROUSSEAUS RILDFORM UND REDEUTUNG FÜR DIE GEGENWART

Ich folge der Aufforderung, mich über Henri
Rousseaus Bildform zu äußern, um so lieber,
als Rousseaus Kunst beinah zu einem Mittel-
punkt des Interesses für moderne Malerei über-
haupt wurde. Dieser Tatbestand erregte, da
im Werden künstlerischer Entwicklungen zu-
nächst alles, auch das W ertvolle umstritten
wird, meistens freudige Zustimmung, bei man-
chen aber auch entschiedene Abwehr. Wir er-
öffnen hier keine Disputation, registrieren viel-
mehr einfach einen vorliegenden Talbestand.
Uberblickt man Rousseaus Werk, so ist es un-
gleich in der Qualität. Wenn neben Hebungen
auch Senkungen zu stehen kommen, so wäre zu
vergegenwärtigen, daß zeilliche Folge der Ar-
beiten noch nicht geklärt ist, daß aber, wenn
eine zeitliche Rette klar gegliedert vorläge, die
Kurve des Niveaus sich einheitlicher formen
würde, indem im großen ganzen die Arbeiten
vollkommener werden und sich einige zu dilet-
tantische an den Anfang stellen. Zweitens muß
man sich nahe halten, daß es sich um einen
völligen Autodidakten handelt, der alle Bild-
mittel aus sich selber allmählich entwickeln
mußte und Malerei keineswegs als einziges Be-
tätigungsgebiet ansah. Denn der Zolleinnehmer
Rousseau, nachdem er sein Amichen schließlich
abgeworfen hatte, komjjonierte, lebte weil gehend
von Musikunterricht und reichte der Comedie
Franchise ein Drama ein. Drittens wäre zu
fragen, ob alle Werke echt, da schon während
der allerersten Wirkungswelle Rousseaufäl-
scbnngen ausgeboten wurden. Eine beträcht-
liche Reihe der Arbeiten Henri Rousseaus aber
rechnet zu den bleibenden Werken moderner
Kunst, ja der Malerei überhaupt. Den Wert
dieser obersten Schicht nicht zu sehn, gehört
in den trüben Anhang der „\\ irkungsgeschichte
der Kunstformen'1, in das große Kapitel der Ver-
kennungen der neuen, stets erst verspäte I angeleg-
ten Maßstäbe. Daß Rousseau heute schon im
Louvre hängt, ist äußerer Ausdruck der inneren
Tatsache, daß sein Sehen nicht nur einer
„kleinen Gruppe Übermüdeter" etwas zusagen
haben dürfte.

Die Reproduktionen dieses Aufsatzes erfolgen mit Genehmi-
gung der D. A. A. (Galerie Fleehtheim, Berlin)

Ohne jedes spezielle Urteil können wir schon
heute feststellen, daß bisher drei Phasen in der
Beurteilung Rousseaus vorliegen. Die erste war
nichts anderes als Ignorieren des eingezogenen
„Sonderlings". Es ist die Zeit, wo Rousseau im
Vorstadtkreise Hausverwaltern, Postbeamten.
Coilfeuren praktische Dienste dadurch leistete,
daß er sie, ihre Frauen oder Kinder gelegentlich
abmalte, was jene erwerben konnten, wie man
sich Andenken an liebe Familienmitglieder
sichert, die man beim Photographen „festhalten"
läßt. Hier sind wir in der soziologisch, lebens-
funktional gebundenen, gleichsam „natürlichen"
Wirkungsschicht dieser Kunst. Bald aber wurde
ein ästhetischer Reiz dieser Sachen erkannt,
nunmehr von einer Ober- und Fremdschicht
gewertet: Apollinaire, der Theoretiker des Ku-
bismus, Picasso und andere traten in Rousseaus
Bekanntenkreis, er malte Pierre Loti, Marie
Laurencin, stellte nach früheren Zurückwei-
sungen bei den „Independents" und im „Salon
d'Automne" aus. Wilhelm Uhde wurde der
deutsche, Für uns erschließende Exponent dieser
VN irkung auf die künstlerische Oberschicht.
Rousseau wurde hier-—zunächst mit Recht —
ganz als ein Fall für sich, als mit nichts ver-
gleichbar, gleichsam zeit- und raumlos ange-
sehen und geliebt. Bezeichnend aber bleibt,
daß Rousseaus Kunst selber nicht die geringste
Wirkung hinterließ, sosehr ihn schon Expres-
sionisten und Kubisten liebten. Nicht nur Pi-
casso, Delaunay und Kandinsky, welche Bilder
Rousseaus erwarben und beinah heilig hielten,
zeigten in ihren Arbeiten bezeichnenderweise
nichts von Spuren dieser Liebe.
Einsolches\ erhältnis bedeutet in der Geschichte
stets, daß zwar gewisse innere Verwandtschaft
vorliegt (wie könnte man sonst lieben über-
haupt !), daß aber Distanz bestellen bleibt,das still
geliebte Phänomen stets ein bestauntes Außen,
stets seelisch in der Ferne ruhen bleibt. Dieser
rein kontemplative Zustand kann überall (auch
gegenüber den „entlegensten" Gebilden, die auf
nichts weniger als Schulebildung angelegt waren)
sich verwandeln in einen dritten, wo jene Liebe
tätig einarbeitend, aufsaugend, assimilierend
wird. In diesem Zustande befinden sich heute

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