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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 42.1926-1927

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Messer, Richard: Jan S̆tursa: zu seinem Gedächtnis
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https://doi.org/10.11588/diglit.14162#0237

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JAN STURSA

Zu seinem Gedächtnis

Mit ihm ist unstreitig der bedeutendste Künstler
der tschechoslowakischen Republik dahinge-
gangen. In der kurzen Zeitspanne von 45 Jahren
ist ihm ungeheuer viel gelungen, ohne daß er
sich jemals der Verwendung jener Mittel schul-
dig gemacht hätte, die durch geistigen Verrat
die Gunst der Massen schnell zu verschalFen
pflegen. Er hat in der fast fanatisch strengen
Schule Myslbeks, der seinen Schülern kein Zäck-
chen irgendeines Akanlhusblaltes je schenkte,
einen Grad des handwerklichen Könnens und
Wissens erreicht, der in der nachimpressioni-
stischen Epoche, in die Stursas Jugendzeit fiel,
eben nur bei dem klassizistisch erstarrten, künst-
lerisch reaktionären Kleinmeister der damaligen
Provinzstadt Prag zu erlernen war. Wenige
hielten diesen erbarmungslosen Drill aus und
die meisten verließen ihn früher als ihnen be-
kömmlich war, begreiflicherweise angezogen
von den Trägern lebendigeren, lebensfrischeren
Gefühls, von den Gestaltern der Zukunft. Wie
wundersam und doch wieder wie selbstverständ-
lich, daß unter allen gerade der bis ans Ende
ausharrte, dessen Temperament am gewaltig-
sten loderte, dem diese Zucht unter allen die
größte Selbstverleugnung imd härteste Askese
auferlegte: Jan Stursa! Wunderbares Zusam-
menwirken der Gelegenheitsgöttin Tyche und
der Psyche, der unbewußt-bewußt wollenden
Seele. Im Ausharren bei dem viel wissenden,
grundernsten, aber reichlich trockenen Myslbek
bis zur Reife bildnerischer Meisterschaft liegt
die eigentliche künstlerische Großtat des Feuer-
geistes Stursa eingeschlossen; darin unterschei-
det er, das Genie, sich vom Dilettanten und vom
Talent, in dieser Verbissenheit notwendiger
Selbstverleugnung ohne Konzession, bis ans
Ende; darin ist das ganze Geheimnis seiner spä-
teren, ganz gegensätzlichen und erstaunlichen
Entwicklung über Rodin, ßourdelle und Maillol
hinaus zu seiner persönlichen Eigenart einge-
schlossen. Paris bedeutete lediglich die Be-
freiung, die Inthronisierung der eigenen, un-
bändigen Persönlichkeit, die sich bisher in so
unerhörter Strenge bändigte. Etwa seit der Eva-
gestalt aus dem Jahre 1908 ist Stursa künstle-
risch großjährig, von nun au ist er er selber.

Schule, sei es nun die Myslbeks, oder die so an-
ders geartete von Paris, gleichviel, Schule ist
für ihn von nun an Vergangenheit. Grundton
seines Temperamentes ist eine unerhörte Hef-
tigkeit sinnlichen Erlebens, eine Heftigkeit, die
andererseits einen ebenso ungewöhnlichen Grad
von Dauer und Beständigkeit einschließt. Ein
glühender und trunkener Eros ist am Werke,
der beherrscht ist von dem dionysischen Rausch,
von heißer Liebe zur Stofflichkeit, zur Materie,
zum Fleisch. Die bildnerische Form dieses sinn-
lichen Erlebens aber besteht wieder in der moto-
rischen Vehemenz der Bewegung. Materie allein
befriedigt diese promelheische Schaffensleiden-
schaft nicht, sondern sie geht ein in sie, um
sie zu einer im realen Räume gar nicht faß-
baren Bewegtheit aufzupeitschen und auf der
Flöhenwoge derselben dauernd festzuhalten. In
der Fülle der Werke können wir drei Rich-
tungen erkennen, einen dreifachen Zusammen-
hang, nach dem sich innerlich verwandt die
Einzelfiguren gruppieren. Eine Reihe: Eva,
Toilette. Frühling, Sulamith, Morgen, Weib mit
Delfine,RuhendeTänzerin,Messalina, Himmels-
gabe, Erdengut ist gekennzeichnet durch fleisch-
volle,üppig gepolsterte Frauenakt e,mit machtvoll
redenden Hüften, ausladenden Rundlichkeiten
barocken Schwunges, Beinen und Schenkeln von
massigem Akzent, zum Entsetzen der Mode-
dame, zum Hohn gegen ihr knabenhaft zer-
brechliches Schönheitsideal. Doch die schwer-
gewichtige Massigkeit dieser Stoffülle wird sieg-
reich übertönt vom schmetternden Gesang all-
gewaltiger Bewegung. Schreiten,Stehen,Tanzen,
Eaufen, Hocken geschieht mit so unendlicher
Grazie, daß die Dimension sich in ihr, wie Papier
in der Flamme, aufzehrt. Mit einem Sprung
über den Abgrund setzt Stursas tiefbarocke
Rubensnatur aus dem Extrem der Materialität
hinüber in das der Geistigkeit. Der weibliche
Körper, den sein Lied ewig mierschöpf lieh und
werbend umsummt, ist von einer Mannigfaltig-
keit, einer Differenziertheit, die nur ihm eignet:
die ewigselbe Materie des weiblichen Inkarnates
ist jedesmal neugeboren, jedesmal verschieden
und spricht jedesmal eine andere Sprache, jedes-
mal eine, die getragen ist von dem brausenden

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