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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 42.1926-1927

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Schneider, Theodor: Das Generationsproblem in der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.14162#0397

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DAS GENERATIONSPROBLEM IN DER KUNST

Wilhelm Pinder, der zum Nachfolger Heinrich
Wölfflins in München ausersehene Leipziger
Kunsthistoriker, ist in seinem soeben erschie-
nenen Werk: „Das Problem der Generation in
der Kunstgeschichte Europas" (Frankfurter
Verlagsanstalt, Berlin) mit einer neuen Theorie
hervorgetreten, deren Geltungsbereich sich nicht
auf die eigentliche Kunstgeschichte beschränkt.
Freilich werden die hier entwickelten neuen An-
schauungen zunächst an Tatsachen der Kunst-
historie demonstriert. Es handelt sich um eine
Kunstgeschichte nach Generationen. Der Ver-
fasser untersucht das Verhältnis des Gleich-
altrigen zum Gleichzeitigen. Ausgehend von
der Tatsache, daß jeweils in der Hauptsache drei
Generationen am Werk sind, gibt Pinder dem
Zeitbegriff eine neue Deutung. Unter diesem
Gesichtspunkte betrachtet, hat jeder Zeitpunkt
einen mehrdimensionalen Charakter. DieMehr-
dimensionalität hat ihre Ursache in dem jewei-
ligen Nebeneinander verschiedener Generations-
schichten, deren Zusammenklang erst jenen
Akkord ergibt, der die Zeitfarbe bestimmt.
Heute wirken die Vertreter dreier sich deutlich
voneinander abhebender Generationsschichten
nebeneinander, die letzten Impressionisten, die
Expressionisten und, als jüngste Schicht, die
der „Neuen Sachlichkeit" dienenden Künstler.
Unter sich sind die drei Gruppen getrennt durch
das zeitliche „Intervall", das durch die ver-
schiedenen Geburtszeiten bestimmt wird. Diese
gruppieren sich nach Ansicht Pinders für die
einzelnen Generationen um ganz bestimmte
mittlere Geburtsjahre. Die Geburtsdaten der
Impressionisten liegen um das Jahr 184o herum.
Die Expressionisten gruppieren sich, ihrem Ge-
burtsdatum nach, um das Jahr 1860. Die Jüng-
sten, wie Kokoschka und Dix, sind in den
achtziger Jahren geboren.

Die gesamte abendländische Kunstgeschichte
untersucht Pinder auf generationsmäßige Zu-
sammenhänge und kommt hierbei zu der über-
raschenden Feststellung, daß die Natur bei der

Zeugimg der großen, entscheidenden Künstler
in der Bemessung des zeitlichen Intervalls die
Zeitspanne eines Menschenalters (25—30 Jahre)
oder seine Flälfte bevorzugt. Der Rhythmus der
kunstgeschichtlichen Entwicklung ist also durch
die Abfolge der Generationen bestimmt.
Im zweiten Teil seines Werkes untersucht Pin-
der das Generationsproblem in seiner Bedeu-
tung für die Gesamtheit der Künste. Offenbar
von Gedankengängen Oswald Spenglers beein-
flußt, erblickt Pinder in den einzelnen Künsten
Wesenseinheiten von verschiedenem Alter.
In den Jahrhunderten des Mittelalters war zu-
nächst die Architektur „vorderste" Kunst, dann
übernahm Plastik und Malerei die Führung.
Die künstlerische Zeitfarbe der neueren Zeit
wird durch die Musik bestimmt, die unsere
„jüngste" Kunst ist.

Durch Pinders Theorie wird dem kunstge-
schichtlichen Entwicklungsprozeß eine neue
Sinngebung verliehen, die sich auf den der
Biologie entstammenden Begriff der Generation
stützt und eine neue Gruppierung der kunst-
historischen Tatsachen ermöglicht. Eine neue
Betrachtungsweise ist gewonnen, die zu den
bereits bestehenden eine neue Kategorie des hi-
storischen Denkens hinzufügt. Kunstgeschichte
ist nicht nur eine Geschichte des Sehens; die
Phänomene der Stilwandlung sind auf eine
geheimnisvolle Weise, die Pinder nicht näher
begründet, mit biologischen Grundtatsachen
verknüpft, die den großen Zeugungsprozeß der
Natur in seiner Gesamtheit bestimmen. Nur
ein Forscher, in dessen Geist das lebendige Ge-
fühl für die großen Zusammenhänge des Da-
seins wirksam ist, konnte uns ein Werk schen-
ken, das weit über die engen Grenzen einer
Einzelwissenschaft hinausdringt. Mit strengster
Wissenschaftlichkeit vereinigt der Begründer
der kunsthistorischen Generationenlehre eine
philosophische Weite der Gedanken, der wir
unsere Bewunderung nicht versagen können.

Theo Schneider

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