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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 19.1921

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Heft 2
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Grautoff, Otto: Vom Hotel de Biron nach Issy und Marly le Roi: die französische Kunst seit 1914
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https://doi.org/10.11588/diglit.4746#0070

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ANDRE DERAIN, ZEICHNUNG

deutung, Ströme der Kraft ergießen sich von
ihnen in das Zentrum, führen dem Talbecken von
Paris immer wieder neue Säfte zu. Man denke
an Claude Lorrain, man denke an Verlaine, an
Verhaeren, an Monticelli, an Tobeen — an Maillol.
Ein wenig beschämt und kleinlaut steht der ver-
feinerte Großstadtmensch vor diesem mächtigen
Frauenleib — vor dieser großartigen Verherr-
lichung der Kunst, die in einem primitiven Mädchen-
körper wirkt. Das Cezannedenkmal Maillols ist
immer noch nicht fertig. Der Entwurf in Gips
steht vollendet in seinem Atelier: eine ruhende,
sinnende Frauengestalt von großen, aber edlen Di-
mensionen. Während ich betrachtend von einer
Arbeit zur anderen ging, stand der Künstler schlank
aufgerichtet am Fenster und setzte seine Arbeit an
einer kleinen Terracottafigur gelassen fort. Auch
er ist mit Aufträgen gesegnet. Für eine süd-
französische Stadt hat er ein Denkmal für die
Kriegsgefallenen zu errichten. Wir sind in der

Lage eine Skizze zu diesem Monument abzu-
bilden. Auch der Entwurf einer Siegesgöttin
findet sich unter seinen Entwürfen; aber im
großen und ganzen scheint ihn die Verherr-
lichung des Sieges nicht zu reizen. Trauer-
genien finden sich zahlreicher in seinen
Mappen. Die meisten und schönsten Studien
aber gelten der Verherrlichung des weiblichen
Körpers im Augenblick der Ruhe, im Zu-
stand gesammelter, selbstbewußter Kraft.

Als der Abend kam, verabschiedete ich
mich. Der Künstler trug mir warme Grüße
für alle seine Freunde und Verehrer in
Deutschland auf. Er höre garnichts mehr
von ihnen. Man solle ihn doch nicht ver-
gessen.

Ich verließ den ungepflegten, wildwuchern-
den und üppig sprießenden Garten, trat auf den
sauberen Weg und schritt die gepflegte Land-
straße, die durch die hügelige Landschaft führt,
hinunter nach Saint Germain en Laye. Aus
einem urwüchsigen Naturidvll gelangte ich
in den Bereich der Pariser Stadtkultur. Im
Parke von Saint Germain gehorchen die
Bäume wieder den Anordnungen der abstrak-
ten Gesetzmäßigkeit, die die Pariser als Schön-
heitskanon aufgestellt haben. Sie stehen in
Reih und Glied. Ihr Gezweig entfaltet sich
maßvoll und ist überall rücksichtslos be-
schnitten, wo es wagte über die Fassade der Park-
anlage hinauszudringen. Maß und Würde wird auch
von der Natur verlangt. Es ist den Bäumen ver-
boten willkürlich zu wuchern. Die Naturkräfte
haben gewisse Schranken zu wahren, die Gesetze
zu erfüllen, die der Mensch vorgeschrieben hat.
Die langen Alleen sind dem Unkraut und dem
Buschwerk verboten. Es hat sich zurückzuhalten.
Lächelnd über diese Tyrannei gehe ich durch
den künstlichen Park. Soll ich ein Manifest für
das Wachstumsrecht in der Natur aufsetzen? dachte
ich. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit im Pflanzen-
reiche? Ich gehe durch eine dunkle, von duftigem
Grün überwölkte Allee. In der Ferne schimmert
es goldig rot. Ich gehe dem Licht entgegen:
ein Gleichnis des Lebensweges. Ach nein, denke
ich, dieses Menschenwerk ist gut. Das alte
Problem Gesetz und Freiheit beschäftigt mich.
Freiheit ist heute Jedermanns Ideal. Ich habe
mich für das Gesetz entschieden. Erst das Gesetz

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