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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 19.1921

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Heft 4
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Scheffler, Karl: Wir und die Franzosen
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https://doi.org/10.11588/diglit.4746#0134

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Jetzt ist Friede geworden und die Beziehungen
werden wieder aufgenommen. Wir interessieren
uns nun dafür, was während des Krieges in Frank-
reich künstlerisch Neues geschaffen worden ist,
wir sind begierig, etwas von Matisse und Maillol
zu erfahren, wir lieben die Bilder von Manet und
Renoir, von Courbet und Cezanne noch ebenso
warm wie früher und sprechen gern darüber, wir
fragen, was die Jüngsten in Paris tun und ver-
gleichen ihre Haltung mit der unserer jungen Gene-
ration, kurz, wir bemühen uns dort fortzufahren,
wo wir 1914 bis zu gewissen Graden abbrechen
mußten. Indem wir uns aber anschicken es zu
tun, ist es uns Bedürfnis, streng eine Grenzlinie
zu ziehen.

Wir lieben die großen französischen Künstler
noch heute, wir bewundern sie und halten sie,
es sei noch einmal gesagt, für Vorbilder aller neuen
Malerei. Vor Manets, vor Renoirs, vor Cezannes
Werken sind wir entzückt; im Berliner Kronprinzen-
palais, wo die Nationalgalerie eine Filiale errichtet
hat, verweilen wir besonders gern im Franzosen-
saal. Und wenn wir Neues von Matisse sehen,
so können wir nicht umhin, unsern jüngeren
Malern ebenso viel Kunstverstand, Sensibilität und
Tradition zu wünschen. Nach wie vor dienen wir
derselben Sache mit derselben Hingebung. Aber
wir wollen es zugleich sehr vernehmlich einmal
sagen, daß wir damit nicht zugleich den Franzosen
überhaupt eine Liebeserklärung machen, daß wir
sie nicht um ihrer Nationalität willen blind ver-
ehren. Wir bemühen uns ehrlich, den Seelen-
zustand dieser Sieger, die auf ihren Sieg nicht
eben stolz sein können, zu verstehen, wir bemühen
uns, ihre Rachsucht zu entschuldigen, die Wut
über ihr zerstörtes Land zu begreifen. Aber wir
sind nichtsdestoweniger von Verachtung erfüllt
über die Menschen ohne Beherrschung, die sich
von Gefühlen der Grausamkeit noch jetzt leiten
lassen. Wir verachten das von den Franzosen be-
liebte Verfahren, diplomatisch mit uns in einer Art
zu reden, die alle Entgleisungen Wilhelms des
Zweiten hinter sich läßt, wir verachten diese grau-
same Lust, dem von einer ganzen Welt nieder-
geworfenen Volk, über das die Franzosen als Ge-
fängniswärter gesetzt sind, die Kehle zuzudrücken,
es wieder ein wenig zu Atem kommen zu lassen
und dann von neuem zu drücken. Wir verachten
diese weibische Hysterie, die Versuche, den Gegner

zu entehren; und wir erblicken dahinter einen In-
stinkt, der für die Zukunft des eigenen Volkes
fürchtet: eine Schwäche.

Wir sind nicht blind, glauben nicht an der Ober-
fläche zu haften, und sehen sehr wohl den tieferen
Zusammenhang, der zwischen der Grausamkeit des
französischen Volkes und seiner hohen Begabtheit
besteht. Die Anlage zum Grausamen hängt aufs
engste zusammen mit dem französischen Talent.
Wenn wir diese Grausamkeit nicht aus der Ge-
schichte erkennen müßten, würden wir sie von
den Werken der französischen Literatur ablesen
können. Und besonders deutlich von jenen Wer-
ken der Literatur, die im neunzehnten Jahrhundert
von dem souverän gewordenen Volk hervorge-
bracht und gelesen worden sind. Dieser Zug von
Grausamkeit kommt um so deutlicher zum Aus-
druck, als den französischen Dichtern eine merk-
würdige naive Aufrichtigkeit, eine fast kindliche
Schamlosigkeit eigen ist, als sie niemals mit einer
starken Empfindung zurückhalten. Ihre Literatur
ist außerordentlich reich an Zügen einer natür-
lichen Wildheit, rohen Animalität und verzweifelten
Mitleidslosigkeit. Sensationelle Szenen grausamer
Peinigung, wie sie sich in den Werken von Victor
Hugo oder Stendhal, von Balzac und Flaubert,
von Zola, den Goncourts oder Maupassant mit
einer wahrhaft artistischen Freude dargestellt fin-
den, sind in den Dichtwerken keiner anderen
Nation anzutreffen. Eben diese Anlage ist aber dem
Talent förderlich gewesen. Selbst dem Talent zur
bildenden Kunst. Das klingt paradox, wird aber
verständlich, wenn man sagt, daß die Maler zu einer
neuen Unbedingtheit des Sehens, zu einer un-
konventionellen Anschauungsweise nur gelangt
sind, weil sie auch die Natur mit einer gewissen
wilden Energie, mit einer grausamen Unerbittlich-
keit angeschaut haben. Sie haben mitleidlos, das
heißt unsentimental ohne Empfindelei sehen ge-
lernt, sind hart gegen sich selbst gewesen und
haben so wieder einmal die Kunst „aus der Natur
herausgerissen". Die Grausamkeit des französischen
Wesens hat sich in den großen Malern in Konse-
quenz, in Phrasenlosigkeit und in Wahrheitssinn
verwandelt; sie ist den Künstlern förderlich ge-
worden, weil sie sich umgesetzt hat in Tempera-
ment, in Vitalität, in geistige Angriffslust, weil sie
mit einem Wort ganz und gar künstlerisch ge-
worden ist.

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