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Mein Auge erbückt ein Blatt Papier von meinem
Manuskriptblock. Aber wie hak es sich verändert!
Oben ist ein violetter Himmel, deutlich und unver-
kennbar. Etroas unterhalb des Himmels, ganz links,
strahlt eine gelbe Sonne. Menn's nicht die Sonne
würe, könnte es wohl ein Zndianeckopf sein. Drunter
steht ein schmales, hohes, spitzgiebeliges Haus, mit
rundem Dachsenster und Butzenscheiben. Der Ein-
fachheit halber fehlk die dem Beschauer zugewendeke
Wand, so dasz man in das slnnere dsr Wohnung
schauk.
„Da sitzt das eine Kind und itzk, die Mukter und
das andere Kind gehen spaziererr. Siehst du, hier."
Ganz rechts erschaut mein Blick zwei Figuren, cine
größere und eine kleinere.
„Aber Grete, das soli eine Mutker sein? ttann
man denn bei einer Frau auch so die Beinr sehen?
Ich denkr, ihr habk Äöcke an?"
„Och sa, dann ist das 'n Mann, das ist der Baier, -
der hat Hosen an, gib mak her, dann muß er auch 'n
Bart haben.*
Einige kühne Skriche mik dem Bleistifi wandeln
die Frau in einen Mann um.
„Dnd hier blühn Blumen, und das ist 'n Baum,
und das eine Pumpe, und das sind zwei Bögel, die
fliegen. Dies sind seine Beine."
Und gerads diese Beine der beiden Bögsl zeigen
mir, daß Grete wieder einen kleinen Schritt weiker
gekommen ist. Bögel, die sitzen oder stehen, hat sie
schon ost gezeichnet. Bei diesen beiden Vögeln aber
hat Grete ans Fliegen gedacht. Es liegt bei aller
Unbeholsenheit der Zeichnung ein Zug darin, dsc die
Bewegung andeutsk. Den Bsinen der Bögel, die
Grete sonst steif nach unten malte, hak sie diesmai
einen sansten Bogen nach rückwärts gegeben, wie
man es bei den Bögeln sieht, wenn sie beim Fluge
die Beine anziehen. Greke beginnl also die Dinge
ihrer Umgednng mit abwägendem Blick zu messsn.
„(Sefälit dir das Bild, lieber Bater?«
,Es ist sehr schön."
„Soll ich dir noch eins malen?"
,3mmer male mir noch eins."
„Ich auch, lieber Baker?"
„Du auch!"
Zubelnd zlehen sie von dannen, um eln neues Stück
vom Felde der Kunst zu erobern. —
Staatsbürgererziehung und Zeichenlehrer
Zu den Ausführungen ln Kunst und 3ugend Hefi II
noch eln Nachwort. Warum bleibt so ofi der reichr
Segen aus, odec beffer, w o bleibk er oft aus? In den
Ländern, in denen der Zeichenlehrer das fünfie Nad
am Wagen isi, in allen den Ländern, wo der er-
grauke Zeichenlehrer in Gruppe 8 und 9 gestoßen
wird und Herr Schulze bleibk, während der junge
AnfSnger des Lakein- oder Mathematikfaches in die
10. Gruppe gehört und der Herr Affeffor oder Rak
ist. So nimmt man einer Sache von vornherein die
MSglichkeit des Höhenfluges. Mik mehr als be-
schnittenen Fkügeln soll dieser Bogel andern das
Fliegen beibringen? Durch das vom alten Staak
geschaffene ungesunde System, nach dem an ein und
derselben Schule von Serken der Behörden geschätzte
und weniger geschähke Mikarbeiker wirken, ist das
Zeichenfach amtlich zu einem minderwerkigen Fache
gestempelt. Diese Schätzung erstreckt sich bis ins
Familienleben. Ein Schwiegervaker z. B. urteilte:
„Der akademische Schwiegersohn muß doch küchtigsr
sein, sonst würde der Skaat auch die Arbeit des
andern, des Zeichenlehrers, bei der Entlohnung ebenso
anerkennen." Ilnd auch der begeisterte Schüler mutz
sich allmählich zu der Erkennkuis durchringen, datz er
salschen Göttern disnte. Wis töricht war man! Schon
an der geringen Bedsutung der Nummer hätte mans
merken können.
Freilich, eine Persönlichkeit sehk stch durch. Wozu
aber dieser unnlltze Kampf, bei dem ein grotzer Teil
unterliegt. Der Zeichenlehrer kann sich die selbst-
bewutzke, männliche Art Bismarcks nicht leisten, der
sagte: „Wo ich sitze, da ist immer oben." Gerade das
bißchen Selbstbewußtsein und Selbstoertrauen flnds
sa, um die der meiste Kampf kobk. Mit Aufgeblasen-
heit, dummem Dünkel und dergleichen erledigt man
diesen „Bismarck".
Werden die Ärmsten nun bereits von senen Seiken
„in dis Schranken" gewissen, so gesellt sich dazu der
Bruderkampf. Da befehdek der Malerzeichenlehrer
den seminarlstischen Zeichenlehrsr, die Zungzeichen-
lehrer die erfahrenen Alten u. s. f. Alle haben sie ihre
Ziele und Wünsche. Nirgends Einheik und Festigkeit.
Doch Echuld an diesen Zuständen, wie sie keine
Lehrergruppe zeigk, hat einzig und allein der Staat.
Man sieht wohl, datz Hllfe nötig ist, man bringk
fie aber in verkehrter Weise. Man ändert die
Meihoden, man Snderk den Skoff, man empfiehlt
Mittel und Mitkelchen bekreffs der Ausbildung.
Man empfahs sogar, dle Anwärter zu Besenbindern
in die Lehre zu schicken, und so der HeiltrSnklein
mehr. Man fragke nichk den Kranken, wo's ihn
drückt, nicht den Fachmann um das, was nok tut,
sondern wandts sich an Kunstakademieprofefforen
und anders Nichkfachleuke sin Bezug auf Kinder-
erziehung), daß schlietzlich solange an dem Krauken
herumexperimentiert und operiert wurde, bts aus
dem ZeuSgssicht eine Frahe wurde.
Der Staat hat nicht nur das Recht, von selnen
Lehrern zu verlangen, die ffugend ihm zuzuführen,
sondern auch dis Pflichk, denen gerecht zu werden,
die da guten Willens sind, ihm zu helfen und seine
Onteressen zu fördsrn.
W!e wars aber? „Ihr führk tns Leben uns htnein
und latzt den Armen schuldig werden, dann überlaßt
ihc ihn der Pein. Doch alle Schuld rächt sich auf
Erden " Dis Schuld des Staakes bestanb darin, datz
er elne Ausbiidung vorschrieb, üie «r selbst nicht
für voll ansah. Man überließ ihn dann der Pein in
amtlicher und gesellschastlicher Hinsichk: denn wirk-
liche Männer, ganze Persönlichkeiken konnten sich
in einem Mllieu einfach nicht wohl fühlen, wo sie
noch hinker dem jüngsten Skudienreferendar her-
marschierten, der vielleicht einst ihr Schüler mar,
während die Seminargenossen, die in der Richtung
auf den Rektor hin weiker gearbeitst, sich ein Leben
geschaffen hatken, daS ffnhalk und Befriedigung gs-