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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 3.1923

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Heft 6 (November 1923)
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Müller, Alfred Leopold: Die künstlerische Bedeutung des Formen- und Farbenhörens
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https://doi.org/10.11588/diglit.22197#0126

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Es !st begreiflich, daß Menschen, denen die Sinne
alles senkrecht und in natürlichen Farben wider-
spiegeln, über solche Bilder Kopf siehen möchten.
Äber bei genauerern Äberlegen sagt sich vielleichk der
oder jener: daß da ganz offenbar Erlebnisse schwingen
und singen, von denen er nicht den Schimmer einer
Ahnung hak, daß jene eigentlich bevorzugt, die andern
gewissermatzen farbenblind sind. Und diese Erscheinung
ist weiter verbreitet, als man ahnt: Bei spSter
Lrblindeken ist unter Fünfen schon ein Farben-
h ö r e r.

Farben- und Formensehen ist nunmehr guk durch-
sorschk. Wir können darüber wissenschaftliche Auf-
schlüsfe geben. Beginnen wir mit dem Leichtesten, mtt
dem Farbenhören. Den roken Mund üochanaans
(Wilde) vergleicht Saloms folgendermaßsn: „Die
Granatäpfelblüten in üen Gärten von Tyrus, glühen-
der als Rosen, sind nicht fo rot, die roten Fanfaren
dsr Trompeken, die das Nahen von Königen ver-
künden, sinü nlcht so rok, wie deln roker MnndÄ

Noke Fanfaren? Zst es möglich, sedem Klang-
werkzeug eine sichkbare Farbe mikzukeilen? Unker
29 Lesern dieser Zeilen ist sicherlich einer, der ganz
entschieden behaupkek, datz ekwa Trompekentöne gleich-
zeitig roke Farbenerscheinungen bei ihm hervorrufen.
Oboen ein scharfes Chromgelb, die kiefen Blechbläser
die dunkelsten Samktöne von Purpur über Tiefgrün
bis zum Schwarz hin, die Bratsche ein Biolett, so datz
die durcheinandecwogenden Skimmen der Musik ihm
als wundervoll sich mischende Farbenwolken erscheinen.

Besonders französische Seelenforscher haben viel
über dtese Erscheinung veröffentlicht, u. a. hak auch
ein deutscher Facbenhörer, Wehofer, seine Dokkor-
arbeit darüber geschrieben. Bon einer G-Moll Grotz-
fuge (Sinfonie) berichtet er: Kaum hatten mich die
ersten vollen Klänge begrüßt und in Mozartsiimmung
versetzt, wurde es im Saal lebendig: ein silbsrweißer
Himmel schien sich zu bilden, an dem bewegke Molken
schwebten — rostge und blaue, manchmal auch goldig-
roke, dann smaragd-grünschimmernds. An einer sanf-
ken, schmeichelnden Skelle zogen Silberfäden durch
den Kranz von Schäfchenwolken. Als die Töne
schwollen, wuchs zugleich das Farbenlicht an zu un-
geheuren Gebilden voll Bewegung und voll Leben, zu
einem unvergleichlich schönsn und reichen Farbenspiei.
Einem Farbenhörer erschien z. B. das gehörte Deutsch
mit grünen Farbentönen, Englisch hellbraun, Fran-
zösisch dunkelbraun, Altgriechisch gelb. Die Farben
werden in folgender Reihenfolge immer dunkler: i, e,
a, o, u. Ein Bah erzeugt dunkle, Sopran die hellsten
Farbentöne.

stn der Kunst und in derNamenge b u n g spielt
diese Taksache entschieden eine Nolle: Der Äame
Ortrud mit den beiden dunkelsten Selbstlauken, dazu
mit zwei r und zwei k zeichnet guk einen finsteren
Charakker, eine feindselige Nakur, die Berderben
sinnk. Dagegen das weiche l und s, die hellen milden
Selbstlaute e und a in Elsa zeichnen eine Lichtgeskalk,
eine Glänzende, Reins.

Auch die Frage, ob andere Sinnesgebieke zueinan-
der in Beziehung treken können, muß unbedingt bejaht
werden. Menn jemand von einem „warmen" oder
kalten „Tongemälde" spricht, also drei Sinnesgebieke

vermengt, ist es möglich, daß er neben dem Sehen und
Hörcn auch Wärmeempfindungen hakke. Geruchsreize
können Farbenempfindungen erzeugen. Ia, es kommt
vor, jedoch äutzerst selken, datz beim Sehen einer Farbe
Geräusche gehört werdsn. oder Töne. Es ist nicht aus-
geschlossen, datz der Ausdruck „schreiende Farben"
zuerst von einem Tonsehsr erfunden wurde. Wenn
die Fähigkeit des Mitschwingens anderer Sinnes-
gebiete wenigstens nicht in leisen Andeutungen bei
manchem Tondichker vorhanden wäre, würde es dann
nicht ein seltsames Unierfangen sein, ein Nakur-
schauspiel in Töne zu übertragen?

Dcr Leser hat manchmal das Gefühl, datz er dem
kühnen Fluge vom Dramaiischen zum Musikalischen,
zum Malerischen, zum Religiösen oder Politischen usw.
nur mit Mühe oder gar nichk folgen kann.

Zum Schluß kehren wir zurück zum Formen -
sehen, wie es uns bei Picasso, Domizlaff und an-
deren ausgeprägk enkgegentritt. Hören wir Wehofer
weiter: „Bet Mozart sind die Farben immer beson-
ders rein und lebhaft, bei einem Tutki aber wurde
geradezu ein geomekrisch — malerisches Kunstwerk
geschaffen: Zm Höhepunkt eines wunderschönen Sahes
fügte sich ein farbiges Gebilde zusammen, von einer
so unerhörten Feinheit und Pcachk der Einzelheiten,
daä Ganze dabei von einem wirklich himmlischen
Glanz übergossen, üaß mir unwillkürlich der Ausdruck
In den Sinn kam: „Ein esoterisches Zeichen!" Der
Eindruck dieser unvergleichlich schönen Lichkfigur wird
mir niemals aus der Erinnerung schwinden. Sie wird
immer zu den kostbarsten Augenblicken meines Lebens
zählen. Als im Höhepunkt der Musik das herrliche
Zeichen entstand, ist mir erst der wahre Mozart auf-
gegangen.

Der rsgelmäßige Aufbau kann nicht zufällig sein,
nach meinem Gefühl muß ein innerer Zusammenhang
bestehen zwischen den sonnenklaren Linien der Mozart-
Tondichtung und dem gesehmäßigen Aufbau in den
Formen des leuchtenden Farbenornamenks, das mir
streng wie eine Präzisionszeichnung um seinen Mik-
telpunkt angeordnek schien. Bei einer Mendelssohn-
fchen Fuge sah ich eine ganze Reihe von Bildern.
Dadurch wurde geradezu das Berhälknis von Gesicht
und Gehör in seinem gegebenen natürlichen (!?) Zu-
sammenhang vor mich hingestellt. Der musikalische
Bau des Tongefüges (Rhykhmus, Harmonie und
Melodie) steht in gesehmätziger Beziehung zum
geometrischen Aufbau der Farbenerscheinungen."

Bielleicht sagt uns jsht Picassos „Mann mit Klari-
nekte" ekwas. Ohns Unkerschrift sieht allerdings das
Bild aus — na, ekwa wie eine Eisenkiesdruse. Nichts
lag Picasso am äußerlichen nebensächlichen. Bild
eines Bläsers. 3n einer Biertelstunds häkts er es
als tadellose Zeichnung hinwerfen können. Fühlst du
nicht, wie weich und doch wie gerade skrebend diese
Töne steigen irgendwoher, irgendwohin, herauf, her-
nieder, getrennk, verbunden, gebrochen, im Lichk,
gedämpft durch Schatten — Tonsäulen, wie in einem
Dome der Musik!

Nicht dle Oberfläche eines Musikerkörpers ist
dargeslellk, sondern das rein Geistige, seine
Sehnsucht, seine Trauer, seine Sieges-
kraft soll durch deine Augen hineinklingen un-
mittelbar
 
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