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Kunst- und Unterhaltungsblatt für Stadt und Land — 3.1854

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Lose Blätter / Gedichte / Literarische Besprechungen
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64

Lose Statt er.

Das „gute Alte".
Wo die Geschichte aufhört, beginnt die Mythe. Für entlegene
Zeiten müssen wir uns darein finden, ohne Boussole im Finstern
zu tappen, obgleich die Forschung nie müde wird, das Gebiet des
Sagenhaften und Dunkeln auf immer engere Granzen zurück-
zuführen. Diesem Streben achter Wissenschaftlichkeit gegenüber
zeigt uns unsere Zeit vielfach ein sehr wohl überlegtes, theilweise
raffinirtes Bemühen, in gerade entgegengesetzter Weise das Feld
der Geschichte einzuengen und der nebelhaften Sage weiteren
Spielraum zu verschaffen. Diese bewußte Richtung möchten wir
in eine geistliche (bei Leibe nicht geistige! sie fußt zunächst
auf sehr materiellem Boden) und weltliche zerfallen lassen,
letztere, scheinbar im Dienste jener »Unsittlichkeit, Verworfenheit"
der gegenwärtigen Generation, ist Stichwort, das rückwärts in
die Vergangenheit gekehrte, salbungsvolle Antlitz die Stellung,
»Reue und Buße", natürlich Anderer, ist die Parole dieser cultur-
historischen Krebse. Sie möchten die Menschheit zurückschieben in die
schöne »Gläubigkeit" des «frommen" Mittelalters. Worin andere
Menschenkinder mit menschlicher Freude einen physischen und gei-
stigen Fortschritt erblicken, da sehen sie nur den Abfall von „Gott,
Glauben und Wahrheit", neuerdings auch „Revolution und Um-
sturz". Gott sei Dank, daß es jetzt etwas schwierig geworden ist,
die Geschichte umzuschreiben, und selbst eine vollständige Ein-
stellung des historischen Studiums, wenn sich auch ein Kopf für
einen solchen verrückten Gedanken fände, oder eine zweite Aleran-
drinische Bücherverbrennung unter der Devise: »sind die Bücher
gut, so enthalten sie nichts Anderes als was —> wir lehren, sind also
überflüssig; sind sie schlecht, so verdienen sie das Feuer" >— zu
spät kommen würde. Die romantische Zeit liegt nun einmal hin-
ter uns, wo Alles für groß und edel galt, weil es ein paar Jahr-
hunderte vor uns geschehen, und wo am Ende selbst für die kras-
seste Rohheit und Unsitte ein Heiligkeitsmäntelchen aufgetrieben
wurde. Künstlicher Nebel hält gegen die kritische Schärfe unse-
rer Zeit nicht mehr vor. Wir sind fortgeschritten, mögen auch
alle Dämmerungsfalter, Nachteulen und Liebhaber des Clair-
obscur unsere Eroberungen für „geistige Leichenfelder" erklären
und wünschen, daß wir in dem Aberglauben und der Rohheit
früherer Zeiten wieder „auferstehen" sollen.
In der Rechtspflege namentlich spricht sich der Charakter einer
Zeit, ihre sittliche Höhe, der Grad ihrer humanen Cultur aus.
Rohen Leidenschaften steht auch eine grausame, erbarmungslose
Justiz gegenüber. Der Grundsatz, keine größeren Uebel als
Strafe eintreten zu lassen, wenn unsere Rechte gegen die Misse-
thäter schon durch kleinere Uebel oder Strafen erreicht werden
können, und die nothwendigen Mittel der gesellschaftlichen Selbst-
vertheidigung nicht durch unnöthige und grausame Beigaben zu
schärfen, war einer moralisch und intellektuell vorgeschrittenen
Zeit aufbewahrt. Erst diese sollte die Art an einen theologischen
und juridischen Aberglauben legen, die uns eine Menge der un-
glaublichsten Unmenschlichkeiten und Abscheulichkeiten, nicht als
Ausnahmen etwa, überliefert haben, und von denen der ersteren
Person des Missethäters und Miffethat unterscheidungslos zu-
sammenwarf, der letztere aber die Theorien der Nachsucht oder

des Wiedervergeltungsrechtes und des Abschreckungsprineips auf
die äußerste Spitze trieb. Au die Mittel der Untersuchung, die
Tortur, braucht nur erinnert zu werden. Es ist doch ein eigen-
thümliches Ding, wenn wir bei einem panegyrischen Biographen
jener merkwürdigen Frau und Königin Christine von Schweden,
der sie als einen Schatz von Tugend und Güte schildert, bei
Freishemius, lesen, daß jene Fürstin nie Einen, der zum Tode
verurtheilt worden, begnadigt habe; und gewiß konnte es doch
keine Zeit geben, die bei ihrem meist so barbarischen Proceßgange
das Eintreten einer begnadenden Machtfülle hätte öfter erfordern
können. Solche kleine Nebenzüge werfen mehr Licht auf ein Zeit-
alter, als die gleichzeitigen Panegyriken der Hofhistoriker und die
antediluvianischen Enkomien unserer modernen Tendenzschrift-
steller in den Farben der Kreuzzeitungen und des Ultramontanis-
mus. So widerwärtig es sein mag, wollen wir hier statt allge-
meiner Behauptungen eine kleine Lese einzelner Fälle zur Cha-
rakteristik mittelalterlicher Zustände geben, wie sie uns zunächst aus
der Chronik einer einzigen Stadt gerade in den Weg gekom-
men sind.
1482 am 22. Juii (Maria Magdalena-Tag) schlugen sich in
Frankfurt a.M. die Pfeifer auf dem Galgenthurm mit einander,
gerade als die Procession mit dem heil. Sacrament hindurch-
gehen sollte. Dem einen Wächter stach man deßhalb die Augen
aus. 1612, den 9. September, ward eine Magd von achtzehn
Jahren, die Feuer angelegt, verbrannt. (Der Feuertod für Mord-
brenner nach dem Grundsatz: Auge um Auge rc. geht noch in
unser Jahrhundert herein; zu einer solchen Strafe brachten es
eifrige Juristen noch unter der Regierung des menschenfreund-
lichen Königs von Bayern, Mar Joseph, in einem Falle, wo meh-
rere Feuerlegungen nach einander vorgekommen waren.) 1563,
den 19. November, ist ein Knabe von zwölf Jahrei: an den Gal-
gen gekommen, weil er gestohlen hatte. 1558 ward ein Häcker
in Frankfurt, der nach dem Verkaufe seines Wein- und Baum-
gartens Nachts die Reben und Bäume desselben abgehauen, bei
seiner acht Jahre später erfolgten Rückkehr für seine allerdings
frevelhafte Bosheit mit Ausstechung der Augen bestraft. Sehr
strenge wurden die Falschmünzer gerichtet, durch lebendige Ver-
brennung; die wissentlichen Ausgeber des falschen Geldes ersäuft.
1573 werden Vater und Sohn deßhalb in Frankfurt verbrannt;
1597 ein anderer Falschmünzer. Unter diesen Umstünden war
es freilich ein besonders umständlich erzähltes Ereigniß, wenn,
wie in Frankfurt am 3. Juli 1561, ein großer Sturmwind den
steinernen Galgen umwarf, und wurde der neue nut dem Auf-
gebote aller dabei betheiligten Handwerkskräfte und bei hoher
Strafe derer, die ausbleiben würden, auf's Rascheste wieder her-
gestellt und bei der Vollendung den treffenden Handwerkern von
E. E. Rath und beiden Bürgermeistern reichlich zu tractiren ge-
geben. Der Chronist zählt die Flaschen Wein getreulich auf und
an Pfeifen und Trommeln fehlte es bei der Feierlichkeit nicht. —>
Wie viel überhaupt das Menschenleben im Werrh gewefen, zeigt
Folgendes. Kurfürst Friedrich der Sieghafte von der Pfalz war
mit seinem Nachbarn, dem Erzbischof von Mainz, dem Grafen
von Württemberg und einigen Anderen in Streit gerathen. Bei
 
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