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Kunst- und Unterhaltungsblatt für Stadt und Land — 3.1854

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Kölle, Fr.: Eine Seele auf dem Gewissen
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Eine Seele auf -em Gewissen.
Novelle
von
Fr. Kölle.

i.
Eine Turnfahrt zunächst auf eine Kiefer.
Es war in den ersten Tagen des Sommers 18'"', als bei
hereinbrechendem Abend ein paar rüstige Touristen mit ein-
ander den Bopserberg bei Stuttgart hinanstiegen. Der Aeltere,
ein angehender Vierziger, trug seine wenige Wäsche sür die vor-
habende Reise in einer sogenannten Schützentasche, indeß der
Andere, ein Jüngling von noch nicht zwanzig Jahren, die sei-
nige in einem leichten „Ranzet" auf dem Rücken mit sich führte.
»Nur langsam, lieber Otto!" sagte, einen Augenbick still-
stehend und Athem schöpfend, der ältere der beiden Herren,
»bis wir da oben sind; wir haben nicht zu pressiren und die
Hitze drückt noch furchtbar."
«Bester Onkel!" erwiederte ihm der feurige Jüngling, „ach!
wenn Sie fühlten, wie es einem zu Muthe ist, nachdem man
wieder einen langen Winter gesessen, geschwitzt, gerechnet, ge-
zirkelt, gekritzelt und Gott weiß, was für sein dereinstiges,
dürftiges Fortkommen in sich hineingepaukt hat; wenn man
nun endlich vier volle Wochen ungebundener Freiheit vor sich
sieht und dazu noch — was für Wochen! begünstigt, wie Nie-
mand mehr zweifelt, vom schönsten Himmel, dessen Feuersonne,
dessen tiefes Blau wir seit sechsundvierzig nicht mehr zu sehen
bekommen haben! Ich sage Ihnen, an den „Forchen" möcht'
ich hinauf: der Bopser ist mir noch lange nicht steil genug!"
„Ei! da kann für uns Beide zugleich Rath werden. Thu'
dir keinen Zwang an, Goldjunge! Sieh', da steht ein herr-
liches Exemplar einer kinus sylvestris, zu deutsch Kiefer oder
Föhre, schlank und gerade, wie der Schaft eines Speeres, dick
und hoch, wie der Hauptmast einer Fregatte von sechzig Brumm-
stimmen und darüber, also ganz für deine Gelüste gewachsen,
und hier ist der Rasen, zwar ziemlich zertreten, wie es der viel-
besuchte Bopser auf sich hat; aber das schadet nichts und ist
mir mittlerweile für mein nächstes Bedürfniß gut genug: denn
ich fange nachgerade an, und zumeist auf meinen -Ausflügen,
zu verspüren, daß meine Milchzähne schon ziemlich vollständig
entwickelt gewesen sein müssen, als man den großen Kometen
von anno eilf hier zu Gesichte bekam."
Damit setzte sich der erhitzte Mann nieder, um, wie er sagte,
seines Neffen Geschicklichkeit im Klettern mit Ruhe zu bewundern.
Otto aber, welcher, wie er jetzt wohl einsah, dem Ausdrucke
seines unbändigen Freiheitsdranges eine etwas zu burschikose
Fassung gegeben hatte, meinte, von Stolz und Ehrgeiz zugleich
angestachelt, nun auch L sagen zu müssen, nachdem er einmal
das emphatische seines polytechnischen Turner-Uebermuthes
ausgesprochen hatte. Er fragte also, den Daumen hinter einen

der Tragriemen seines Ranzens schiebend, mit lakonischer Bün-
digkeit: „Mit oder ohne?"
„Nach Belieben, mein Sohn!" entgegnete trocken der bos-
hafte Onkel. Somit bestieg Otto belasteten Rückens die Föhre
mit ungewöhnlicher Behendigkeit. Oben angelangt, brach er
einen Zweig, den er sich auf den Hut steckte.
„Die Aussicht ist wundervoll!" rief er nach einer Weile
entzückt herab.
»Unv gar nicht theuer!" erwiederte der Onkel trocken hinauf.
Einen Zweig zwischen den Zähnen haltend, stieg der Jüng-
ling jetzt gleich sehr behende wieder herunter. Bei seinem väter-
lichen Freunde angekommen, erbat er sich dessen Erlaubnis
auch seinen Hut mit der für ihn herabgebrachten Beute schmücken
zu dürfen.
„Viel Ehre für mich! Ich werde dagegen nicht ermangeln,
passenden Ortes dankbarst zu bemerken, daß dieser mein Hut-
schmuck nicht etwa von einer der jungen Kiefern, wie wir sie
hier zu Dutzenden rings um uns stehen sehen, herstamme, wo-
von sich jedes Kind einen Arm voll Reiser nach Belieben her-
unterkneipen kann; sondern von dem Wipfel eines fünfund-
neunzigers."
„Onkel! müssen denn alle idealen Bestrebungen der Jugend
durch das Scheidewasser Ihrer beißenden Laune chemisch zer-
setzt und niedergeschlagen werden?"
„Wie Schade! daß ich alter Narr von der schönsten aller
Wissenschaften, der Chemie, so gut wie nichts verstehe! sonst
wollte ich dich gerne in den passenden tonninis teollnieis be-
kämpfen; so aber muß ich die Alles bewältigende Gelehrsam-
keit unserer lieben Jugend in meinem werthen Neffen um einige
Nachsicht mit einem alten Ignoranten, seinem Oheime, bitten,
der es zeitlebens mit alter Anstrengung tu natnrallbus nicht
einmal so weit zu bringen vermochte, daß er auch nur das
Gras wachsen hörte. Täusche ich mich indessen, wenn ich, von
dem zersetzenden Wesen dieses von dir verpönten und doch so
harmlosen Humors auf die ihm verwandte Natur chemischer
Prozesse schließend, annehmen zu dürfen glaube, daß dieselbe
Säure, indeß sie niederschlagend wirkt, auch klärt, dasselbe Salz,
indem es auflost, auch einer temperirenden Wirkung nicht er-
mangeln dürfte? Wie, oder meinst du nicht etwa auch, daß
die behendere Gemächlichkeit, mit der nur Beide jetzt den Bopser
vollends hinansteigen, dir immer noch weit weniger behagen
dürfte, als mir, wenn du nicht, durch meine Harausforderung
zu Befriedigung deiner Gelüste ermuntert, auf die Kiefer ge-
stiegen wärest, indeß ich hier im Grase geruht habe?"
„Die Erfahrung mindestens, die ich, ehrlich gestanden, an
Armen und Beinei: jetzt machen muß, bestätigt Ihre Behaup-
 
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