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Kunst der Zeit: Zeitschrift für Kunst und Literatur — 2.1928

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Nr. 7
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Nierendorf, Karl: Bekenntnis zu Ascona
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https://doi.org/10.11588/diglit.67647#0064

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BEKENNTNIS ZU ASCONA
VON
KARL NIERENDORF

Ascona läßt sich ganz genau und sehr leicht be-
schreiben. Es ist ein kleiner Ort mit einer einzigen
Hauptstraße, mit einer Pfarrkirche aus dem 16. Jahr-
hundert, einem Dorfplatz, vielen engen Gassen und
halbverfallenen Häusern. Es gibt ein Postamt, eine
Landebrücke für den kleinen Dampfer — aber
keinen Bahnhof, keine Bars, keine Jazzband, kein
Kino und überhaupt keinen „Betrieb“, den ein
elegantes Publikum heute selbst vom kleinstcn
Badeort verlangt. — Ein kleines Nest wie tausend
andere. Kein interessantes Bauwerk, nicht einmal
ein Kriegerdenkmal. — In tausend Jahren histori-
scher Vergangenheit wurde nicht eine einzige
Schlacht hier geschlagen, kein Ketzer verbrannt,
kein Konzil und keine Revolution veranstaltet,
nichts Schreckliches hat sich begeben, das geeignet
gewesen wäre, in die Weltgeschichte Aufnahme zu
finden — nichts, nichts, nichts, was dem Ort zu
Ruhm und Ehren verhelfen hätte.
Die Cafes und Läden der Hauptstraße sind
klein wie Kinderspielzeug. Alles erscheint winzig
und niedlich. Man mag nach jeder Richtung gehen:
stets ist man gleich am Ende des Ortes, was den
Großstädter mit immer neuer Bewunderung er-
füllt. Aber wie man einen Schritt in die winkligen
und holprigen Seitengäßchen tut, erschrickt man
vor der Strenge mittelalterlicher Fassaden, denen
selbst der helle Anstrich zunächst nichts von ihrer
Herbheit nimmt, bis die Innenhöfe mit ihren
Blumen und Stauden, Steinbänken unter Lauben,
teils sogas mit Kreuzgängen erweisen, daß die
meterdicken Mauern und vergitterten Fenster nicht
gar so ernst gemeint sind. Wie einfach und länd-
lich, wie wohlgegliedert und edel wölbt sich der
doppelstöckige Kreuzgang des Collegio!


Oft hört man, daß Ascona „gar nichts beson-
deres“ sei, von Enttäuschten, die bald weiterfahren.
„Gute Reise!“ Wieviel Schadenfreude kann in
einem Wort liegen! Zieht ab, möglichst schnell,
mondäneren und bedeutenderen Zielen zu. Wir
aber, wir bleiben; wir alle, die von dem Charme
dieser Landschaft angerührt und ihr verfallen sind.
Wie kommt man überhaupt hier wieder fort? Es
gibt nur eine Möglichkeit: den aller — aller-
äußersten Termin als unabwendbares Schicksal zu
betrachten . . . und dann immer noch Gründe
zu finden um länger zu bleiben. Auf diese Weise
geht es manchen so, daß sie sich eines Tages fest
ansiedeln und für die übrige Welt endgültig ver-
loren sind.


Alles was Ascona „bietet“ findet man über-
all im Tessin, in Tirol, in ganz Italien. Und
doch gibt es wenige Orte in der Welt von
der gleichen geheimnisvollen von vielen als
magisch empfundenen Gewalt. James Ensor
sagte mir einmal: „Ich kann nur in Ostende
leben. Nirgendwo sonst gibt es das helle Licht,
das ich in meinen Bildern wiederzugeben ver-
suche; schon wenige Kilometer strandwärts ist
alles anders“. Gewiß muß jeder Mensch einen
ihm bestimmten Grad von Licht, eine ihm be-
sonders gemäße Spannung des Aethers über sich
haben, um sich unmittelbar heimatlich zu fühlen:
die über uns wirkende Himmelswelt ist für unser
Sein ebenso bedeutsam wie unsere irdische Umge-
bung. Es gibt — z. B. an der Nordsee — Stellen,
wo das Licht sich hoch in der Luft zu brechen
scheint. Von der Sonne und vom Meere her
scheint gleichzeitig eine Helligkeit zu strahlen, sich
im Raum zu begegnen und wie aus Millionen

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