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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — 6.1871

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Ihne, Ernst: Die Stoffwelt der neuesten Malerei, [1]: Studien im Pariser "Salon" von 1870
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https://doi.org/10.11588/diglit.5184#0017

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fahren ist in beiden Fällen im Wesentlichen dasselbe. Nur in
einerBeziehung genießt der Kunsthistoriker einen Vortheil.
Jch meine in Beziehnng auf den Streit überJnduktion und
Deduktion. Denn während in der Kosmologie die Funda-
mentalsätze des deduktiven Verfahrens des Einzelnen stets
angegriffen werden, besitzen wir in gewissen psycholcgischen
Axiomen einen festen Boden für die Deduktion in der
Kunstphilosophie. Als Basis dient hier der Satz von
der Subjektivität der Borstellung, welcher, von der An-
schauung auf das abstrakte Wissen ausgedehnt, die Grund-
lage der modernen Philosophie bildet. Daß wir das
Ding an sich nicht kennen, wird noch bestritten, daß wir aber
die Dinge selbst nicht sehen, sondern blos ihre Beziehungen
zu uns, ist so gut wie selbstverständlich.

Aus diesem Satze allein könnte man nun einc
Theorieder bildenden Künste entwickeln. Es solgt daraus
direkt, daß die Nangordnung derObjekte in derKunst eine
ganz andere ist als in der Natur und in der Wissenschaft,
uud daß diese Rangordnung bestimmt werden muß durch
das Verhältniß der Objekte zum menscklichen „Jch" uud
durch ihre kausale Entfernung vom Kampfplatz der mensch-
lichen Sympathien und Leidenschaften. — Die Gesetze
der okularen Perspektive, in's Geistige übersetzt, bilden also
den Leitfaden des künstlerischen Wirkeus. Sie bestimmen
in der Geschichte der Kunst dasjenige, was ihr innerstes
Wesen ausmacht, die Wahl des Gegenstandes und ihre
Lage zum geistigen Standpunkte.

Es ist aber offenbar, daß wir auch auf induktivem
Wege an dasselbe Ziel gelangen müssen, wenn wir die
Störungen in Betracht ziehen, welche jede gesetzmäßige
Entwickelung durch fremdeEinflllsse erleidet. Unser Augen-
merk muß also hauptsächlich darauf gerichtet sein, die
Störungeu kennen zu lernen und zu erklären. — Allerdings
setzen wir uns bei dieser induktiven Untersuchung dem
Vorwurfe aus, a prlori einen Satz aufgestellt zu haben,
den wir nur auf aposteriorischem Wege erreicht zu haben
vorgeben. Das ist aber ungefähr, wie wenn der Wanderer
von einer Höhe aus das Ziel seiner Reise entdeckt, seine
Marschroute danach bestimmt und zuletzt auch wirklich
anlangt.

Wenn ich nun hier versuche in einem bestimmten
räumlich und zeitlich eng begrenzten Gesichtsfelde das
Walten dieser Gesetze der geistigen Perspektive nachzu-
weisen, so ist es einleuchtend, daß diese Betrachtungen einen
durchaus fragmentarischen Charakter haben müssen.

Jn einer erschöpfenden Behandlung dieser Frage müßte
man jede künstlerische Strömung nicht nur nach unten ver-
folgen können, sondern auch aufwärts bis in das ferne
Quellengebiet der Kunst und des Wissens. Hier müssen
wir zufrieden sein, wenn wir, diesen und jenen Strom
in einer bestimmten Höhe aufnehmend, zeigen können, daß
sie trotz aller Abweichungen und Krümmungen doch alle in
derselben Nichtung führen, alle an dasselbe Ziel.

Der französische „Salon", der am 7. Mai in den Ely-
säischen Feldern eröffnet wurde, und den ich hier in
diesem Sinne zu besprechen beabsichtige, enthielt dies-
mal über 5000 Kunstwerke und darunter nahe an 3000
Gemälde. Diese überwaltigende Zahl, zusammengenom-
men mit der kurzen Jahresfrist, gibt schon einen Anhalts-
punkt für die kritische Beurtheilung der Ausstellung, denn
i man kann schon daraus fast mit Sicherheit schließen, daß
! die große Mehrzahl dieser GemLlde der Studienmappe
! des Jahres entnommen ist und daß die Technik der Ma-
lerei, im weitesten Sinne des Wortes, der eigentliche Ge-
j genstand dieser jährlicheu Konkurse sein muß. — Es ist
also in erster Linie eine fachlich künstlerische Ausstellung,
die durch den weiten Ueberblick, den sie über die Leistungen
des Jahres gewährt, den Künstlern eine ausgezeichnete
Gelegenheit zur Selbstkritik bietet. Jch will die Frage
unerörtert lassen, ob im Jnteresse des weiteren didaktischen
Zweckes, den man bei diesen Ausstellungen verfolgt, im
Interesse der künstlerischen Bildung des Publikums eine
etwas sorgfältigere und bedeutend weiter gehende Sichtung
des Materials nicht wünschenswerth wäre. Sicher ist es,
daß sich diese mit dem neuen Systeme des künstlerischen
Selfgovernment schwer vereinigen ließe.

Wir haben also die ganze künstlerische Ernte des
Jahres vor uns, und es bleibt der Kritik'überlassen, das
Korn von der Spreu zu sondern.

Zuerst müssen wir den technischen Leistungen, der
koloristischen Bravour und der PinselvirtuositLt die schul-
dige Anerkennung zollen. Es ist ganz möglich, daß diese
technischen Errungenschaften der modernen Franzosen für
die Zukuuft der Malerei von größerer Bedeutung sein
werden, als alle ihre geistigen Bestrebungen. Uns inter-
essirt die Virtuosität hauptsächlich, insofern als sie die
Wahl des Gegenstandes beeinflußt. Jn ahnlicher Weise hat
die arithmetische Notation der Jnder auf den Fortschritt
der Civilisation mächtiger eingewirkt als ihre politischen
Jnstitutionen und ihre tiefsinnigen Philosophien.

Für den Maler, der den Menschen selbst zum Gegen-
stande seiner Gemälde macht, ist die eigentlich auch in's
Gebiet der Technik gehörige anatomische Kenntniß des
menschlichen Körpers und die vollständige Beherrschung
der Darstellungsmittel von derselben Wichtigkeit, wie für
den Dichter die Herrschaft über die Sprache. Daß aber
diese Kenntniß und diese Fertigkeit allein dem Maler
ebensowenig genügen, wie die Sprache dem Dichter, das
wird nicht ganz allgemein zugegeben, vielleicht weil es
leichter ist, in einem Gemälde den fehlenden Gedanken zu
ergänzen als die sinnliche Form.

Oft ist es der Künstler selbst, der erst durch den
Titel die Jdee in sein fertiges Werk hineinlegt, und o'l
die Phantasie des Beschauers, die in einem Gemälde eine
Jdee zu erkennen glaubt, Lhnlich wie sie in die glimmen-
den Kohlen des Heerdes oder in die zerrisseuen Wolken-
 
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