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Forschungen — Vermischtes
472
Mißverhältnis zwischen den mächtigen Schädeln und den
verkümmerten Pranken hätte vor der Annahme antiken
Ursprungs warnen sollen, wenn auch die großartige Ein-
fachheit in der Stilisierung der zähnefletschenden Bestien
an etruskische Bildungen denken läßt. Die Köpfe erheben
sich an Wucht der Wirkung noch weit über die Baptisteriums-
skulpturen, — sie gehören zu den eindruckvollsten Schöp-
fungen der romanischen Plastik in Florenz. An dem
Turm der Amidei sind sie offenbar erst nachträglich an-
gebracht worden. Sie haben zu der frühgotischen Archi-
tektur keinerlei Beziehungen. Es gibt außerdem kein weiteres
Beispiel dafür in Florenz und in ganz Toskana, daß man
derartige Köpfe an Geschlechtertünnen angebracht habe.
Es ist nicht unmöglich, daß die Köpfe von dem alten, ver-
schwundenen Stadttor — Porta S. Maria — stammen, von
dem die Straße ihren Namen hat. Daß in romanischer
Zeit toskanische Stadttore mit derartigen »Apotropaia« ge-
schmückt wurden, dafür gibt das Löwentor des pisanischen
Kastells zu Cagliari auf Sardinien den Beweis. Natürlich
muß man sich die Köpfe anders angeordnet vorstellen.
Sie müssen nach einwärts blicken (nicht nach auswärts,
wie sie es jetzt tun), und somit jeden ins Auge fassen, der
unter ihnen durch das Tor schreitet.
Die bisher ganz unbekannte inkrustierte Marmorkanzel
von S. Giovanni Maggiore bei Borgo S. Lorenzo hat ein be-
sonderes Interesse dadurch, daß sie auf sechseckigem Grund-
riß aufgebaut ist. Sie ist außer dem Pulpito von Fagna das
einzige frühtoskanische Beispiel des polygonalen Kanzeltypus,
den später Niccolö Pisano aufgriff und völlig ausbildete. Die
prächtigen Inkrustationen der Brustwehrplatten — Vasen
mit Fischen darin — finden ihre stilistischen Parallelen in
S. Giovanni und in S. Miniato zu Florenz. Die Kanzel ge-
hört, wie die zu Fagna, der zweiten Hälfte des 12. Jahr-
hunderts an.
Durch seine Beziehungen zur Kunst Niccolö Pisanos
gewinnt auch der Marmorkopf von S. Maria Maggiore
eine über den Wert seiner Einzelexistenz hinausgehende
Bedeutung. Er ist ein neuer Beweis für das Uber-
greifen der pisanischen Einflußsphäre nach Florenz gegen
Ende des 13. Jahrhunderts. Der monumentale Frauen-
kopf, dem die tiefen Falten, die sich von der (ver-
stümmelten) Nase zum Munde ziehen, etwas Leidvoll-
Schicksalsschweres verleihen, gilt als ein Porträt Bertas, der
Tochter Karls des Großen. Mancherlei Legenden um-
spinnen ihn. Über seine Herkunft ist nichts Näheres zu
ermitteln. Es kann wohl als sicher gelten, daß hier ein
Hauptwerk jenes zuerst von Swarzenski charakterisierten
Florentiner Bildhauerateliers vorliegt, das bis ins erste
Vierteides 14.JafTrhunderts hinein auf den Errungenschaften
Niccolö Pisanos fortbaute, und dessen bekannteste Schöp-
fungen die Reliefs der drei Marien am Grabe in S. Croce
und des Drachentöters St. Georg an der Porta S. Giorgio
sind. x-
FORSCHUNGEN
Lionello Venturi schreibt im Märzheft des Bollettino
d'Arte eine kleine Madonna, die sich ehemals in Santa
Apollonia zu Velletri befand und jetzt im Kapitelsaal des
Domes bewahrt wird, dem Gentile da Fabriano zu.
Das kleine Werk zeigt in Typen und Anordnung eine un-
leugbare Verwandtschaft mit den gesicherten Arbeiten
dieses Malers, steht aber, wie es scheint, in der Qualität
etwas unter ihnen. Es ist ferner so stark verdorben, daß
einige Partien überhaupt in Wegfall kommen. -/.
Das Januarheft der »Arte« enthält die Fortsetzung von
G. Giovannonis Studien über römische Kirchen aus der
zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Ausgehend von
San Spirito in Sassia und Santa Catharina de' Funari, die
er im ersten Teil seines Aufsatzes untersucht hat (vgl. Kunst-
chronik Nr. 24), will er nunmehr die Entwicklung der zwei-
geschossigen Fassade von etwa 1570—1590 verfolgen. Im
vorliegenden Teil wird Santa Maria dell' Orto behandelt.
Durch eingehende stilkritische Analyse sucht Giovannoni
den Beweis zu erbringen, daß die Fassade dieser Kirche
auf Vignola zurückgehen muß; ihre Erbauung fällt nach
den noch erhaltenen Urkunden in die Jahre 1566—69. —
Zu dem rätselhaften Guidetto de' Guidetti, dessen Si-
gnatur Giovannoni an der Fassade von Santa Catarina de
Funari fand, bringt er jetzt einen kleinen Nachtrag. Guidetto
scheint nämlich mit einem Maestro Guidi, Architekten des
Kardinals Cesi, identisch zu sein, über den der Bevoll-
mächtigte der Stadt Rieti in Rom 1561 an seine Stadt-
verwaltung berichtete. Im Anschluß hieran möchten wir
auf eine andere Nachricht hinweisen, die sich ebenfalls auf
diesen Architekten zu beziehen scheint. In Ubaldo Biccis
»Notizia della famiglia Boccapaduli« (Rom 1762, p. 114,132)
wird mitgeteilt, ein Architekt Guidetti habe 1563 über-
nommen, Michelangelos Pläne für die Ausgestaltung des
Kapitolsplatzes auszuführen (vgl. auch Michaelis in Zeit-
schrift für bildende Kunst, 1891 p. 192). Jedoch scheint er
zur Ausführung dieser Arbeit nicht gekommen zu sein;
denn schon 1564 erhielten Boccapaduli und Tommaso
de' Cavalieri den Auftrag, jene Bauten zu Ende zu führen,
was sie dann auch zum Teil taten. _/.
Einige neu entdeckte Werke Giambattista Pittonis
in Florenz bildet Laura Coggiola Pittoni im Märzheft des
Bolletino d'Arte ab. Durch die Bemühungen der Ver-
fasserin des Artikels, der diese Abbildungen begleitet, wird
das Werk Pittonis allmählich immer mehr erweitert. Wir
konnten in den letzten Jahren schon mehrmals auf ihre
Forschungen auf diesem Gebiete hinweisen. Jetzt sind zum
Werke Pittonis hinzugekommen: vier ovale Bilder mit
Geburt Christi, Darstellung im Tempel, Himmelfahrt Christi
und Ausgießung des hl. Geistes, die sich zu je zweien im
Besitz Carlo Loesers und Angiolo Cecconis in Florenz be-
finden und zwei kleine Bilder mit »Alexander und die Frau
des Darius« und »Esther und Ahasver« im Besitz des
Kunsthändlers Salvadori in Florenz.
In derselben Zeitschrift publiziert Giuseppe Fiocco
einige Urkunden über Perino del Vagas Fresken in
S. Marcello zu Rom, aus denen hervorgeht, daß sie in
zwei Absätzen 1525—27 und 1540—43 gemalt wurden. _/.
VERMISCHTES
Die Königliche Akademie für graphische Künste
und Buchgewerbe in Leipzig, die im Jahre 1914 ihr
150jähriges Jubiläum feiert, wird bei dieser Gelegenheit
eine monumental angelegte Jubiläumsschrift herausgeben,
an deren Gestaltung die besten Kräfte des blühenden
Instituts emsig tätig sind. Sie wird gänzlich in der Aka-
demie selbst hergestellt und ein würdiges Denkmal der
deutschen Buchgewerbekunst der Gegenwart bilden.
Inhalt: Die Sommerausstellung; der Berliner Sezession. — Gabriel v. Seidl t; Henriette Hertz f. — Personalien. — Heinedenkmal in Frankfurt a. m. —
Ausstellungen in Qenf, Amsterdam, München. — Konig-Albert-Museum in Chemnitz; Bayerische Staatsgalerien; Städt. Museum in Stettin.—
Kunsthistorisches Institut in Florenz. — Forschungen. — Vermischtes.
Verantwortliche Redaktion: Gustav Kirstein. Verlag von E.A.Seemann, Leipzig, Hospitalstraße IIa
Druck von Ernst Hedrich Nachf., o. m. b. h., Leipzig
Forschungen — Vermischtes
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Mißverhältnis zwischen den mächtigen Schädeln und den
verkümmerten Pranken hätte vor der Annahme antiken
Ursprungs warnen sollen, wenn auch die großartige Ein-
fachheit in der Stilisierung der zähnefletschenden Bestien
an etruskische Bildungen denken läßt. Die Köpfe erheben
sich an Wucht der Wirkung noch weit über die Baptisteriums-
skulpturen, — sie gehören zu den eindruckvollsten Schöp-
fungen der romanischen Plastik in Florenz. An dem
Turm der Amidei sind sie offenbar erst nachträglich an-
gebracht worden. Sie haben zu der frühgotischen Archi-
tektur keinerlei Beziehungen. Es gibt außerdem kein weiteres
Beispiel dafür in Florenz und in ganz Toskana, daß man
derartige Köpfe an Geschlechtertünnen angebracht habe.
Es ist nicht unmöglich, daß die Köpfe von dem alten, ver-
schwundenen Stadttor — Porta S. Maria — stammen, von
dem die Straße ihren Namen hat. Daß in romanischer
Zeit toskanische Stadttore mit derartigen »Apotropaia« ge-
schmückt wurden, dafür gibt das Löwentor des pisanischen
Kastells zu Cagliari auf Sardinien den Beweis. Natürlich
muß man sich die Köpfe anders angeordnet vorstellen.
Sie müssen nach einwärts blicken (nicht nach auswärts,
wie sie es jetzt tun), und somit jeden ins Auge fassen, der
unter ihnen durch das Tor schreitet.
Die bisher ganz unbekannte inkrustierte Marmorkanzel
von S. Giovanni Maggiore bei Borgo S. Lorenzo hat ein be-
sonderes Interesse dadurch, daß sie auf sechseckigem Grund-
riß aufgebaut ist. Sie ist außer dem Pulpito von Fagna das
einzige frühtoskanische Beispiel des polygonalen Kanzeltypus,
den später Niccolö Pisano aufgriff und völlig ausbildete. Die
prächtigen Inkrustationen der Brustwehrplatten — Vasen
mit Fischen darin — finden ihre stilistischen Parallelen in
S. Giovanni und in S. Miniato zu Florenz. Die Kanzel ge-
hört, wie die zu Fagna, der zweiten Hälfte des 12. Jahr-
hunderts an.
Durch seine Beziehungen zur Kunst Niccolö Pisanos
gewinnt auch der Marmorkopf von S. Maria Maggiore
eine über den Wert seiner Einzelexistenz hinausgehende
Bedeutung. Er ist ein neuer Beweis für das Uber-
greifen der pisanischen Einflußsphäre nach Florenz gegen
Ende des 13. Jahrhunderts. Der monumentale Frauen-
kopf, dem die tiefen Falten, die sich von der (ver-
stümmelten) Nase zum Munde ziehen, etwas Leidvoll-
Schicksalsschweres verleihen, gilt als ein Porträt Bertas, der
Tochter Karls des Großen. Mancherlei Legenden um-
spinnen ihn. Über seine Herkunft ist nichts Näheres zu
ermitteln. Es kann wohl als sicher gelten, daß hier ein
Hauptwerk jenes zuerst von Swarzenski charakterisierten
Florentiner Bildhauerateliers vorliegt, das bis ins erste
Vierteides 14.JafTrhunderts hinein auf den Errungenschaften
Niccolö Pisanos fortbaute, und dessen bekannteste Schöp-
fungen die Reliefs der drei Marien am Grabe in S. Croce
und des Drachentöters St. Georg an der Porta S. Giorgio
sind. x-
FORSCHUNGEN
Lionello Venturi schreibt im Märzheft des Bollettino
d'Arte eine kleine Madonna, die sich ehemals in Santa
Apollonia zu Velletri befand und jetzt im Kapitelsaal des
Domes bewahrt wird, dem Gentile da Fabriano zu.
Das kleine Werk zeigt in Typen und Anordnung eine un-
leugbare Verwandtschaft mit den gesicherten Arbeiten
dieses Malers, steht aber, wie es scheint, in der Qualität
etwas unter ihnen. Es ist ferner so stark verdorben, daß
einige Partien überhaupt in Wegfall kommen. -/.
Das Januarheft der »Arte« enthält die Fortsetzung von
G. Giovannonis Studien über römische Kirchen aus der
zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Ausgehend von
San Spirito in Sassia und Santa Catharina de' Funari, die
er im ersten Teil seines Aufsatzes untersucht hat (vgl. Kunst-
chronik Nr. 24), will er nunmehr die Entwicklung der zwei-
geschossigen Fassade von etwa 1570—1590 verfolgen. Im
vorliegenden Teil wird Santa Maria dell' Orto behandelt.
Durch eingehende stilkritische Analyse sucht Giovannoni
den Beweis zu erbringen, daß die Fassade dieser Kirche
auf Vignola zurückgehen muß; ihre Erbauung fällt nach
den noch erhaltenen Urkunden in die Jahre 1566—69. —
Zu dem rätselhaften Guidetto de' Guidetti, dessen Si-
gnatur Giovannoni an der Fassade von Santa Catarina de
Funari fand, bringt er jetzt einen kleinen Nachtrag. Guidetto
scheint nämlich mit einem Maestro Guidi, Architekten des
Kardinals Cesi, identisch zu sein, über den der Bevoll-
mächtigte der Stadt Rieti in Rom 1561 an seine Stadt-
verwaltung berichtete. Im Anschluß hieran möchten wir
auf eine andere Nachricht hinweisen, die sich ebenfalls auf
diesen Architekten zu beziehen scheint. In Ubaldo Biccis
»Notizia della famiglia Boccapaduli« (Rom 1762, p. 114,132)
wird mitgeteilt, ein Architekt Guidetti habe 1563 über-
nommen, Michelangelos Pläne für die Ausgestaltung des
Kapitolsplatzes auszuführen (vgl. auch Michaelis in Zeit-
schrift für bildende Kunst, 1891 p. 192). Jedoch scheint er
zur Ausführung dieser Arbeit nicht gekommen zu sein;
denn schon 1564 erhielten Boccapaduli und Tommaso
de' Cavalieri den Auftrag, jene Bauten zu Ende zu führen,
was sie dann auch zum Teil taten. _/.
Einige neu entdeckte Werke Giambattista Pittonis
in Florenz bildet Laura Coggiola Pittoni im Märzheft des
Bolletino d'Arte ab. Durch die Bemühungen der Ver-
fasserin des Artikels, der diese Abbildungen begleitet, wird
das Werk Pittonis allmählich immer mehr erweitert. Wir
konnten in den letzten Jahren schon mehrmals auf ihre
Forschungen auf diesem Gebiete hinweisen. Jetzt sind zum
Werke Pittonis hinzugekommen: vier ovale Bilder mit
Geburt Christi, Darstellung im Tempel, Himmelfahrt Christi
und Ausgießung des hl. Geistes, die sich zu je zweien im
Besitz Carlo Loesers und Angiolo Cecconis in Florenz be-
finden und zwei kleine Bilder mit »Alexander und die Frau
des Darius« und »Esther und Ahasver« im Besitz des
Kunsthändlers Salvadori in Florenz.
In derselben Zeitschrift publiziert Giuseppe Fiocco
einige Urkunden über Perino del Vagas Fresken in
S. Marcello zu Rom, aus denen hervorgeht, daß sie in
zwei Absätzen 1525—27 und 1540—43 gemalt wurden. _/.
VERMISCHTES
Die Königliche Akademie für graphische Künste
und Buchgewerbe in Leipzig, die im Jahre 1914 ihr
150jähriges Jubiläum feiert, wird bei dieser Gelegenheit
eine monumental angelegte Jubiläumsschrift herausgeben,
an deren Gestaltung die besten Kräfte des blühenden
Instituts emsig tätig sind. Sie wird gänzlich in der Aka-
demie selbst hergestellt und ein würdiges Denkmal der
deutschen Buchgewerbekunst der Gegenwart bilden.
Inhalt: Die Sommerausstellung; der Berliner Sezession. — Gabriel v. Seidl t; Henriette Hertz f. — Personalien. — Heinedenkmal in Frankfurt a. m. —
Ausstellungen in Qenf, Amsterdam, München. — Konig-Albert-Museum in Chemnitz; Bayerische Staatsgalerien; Städt. Museum in Stettin.—
Kunsthistorisches Institut in Florenz. — Forschungen. — Vermischtes.
Verantwortliche Redaktion: Gustav Kirstein. Verlag von E.A.Seemann, Leipzig, Hospitalstraße IIa
Druck von Ernst Hedrich Nachf., o. m. b. h., Leipzig