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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 24.1913

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Kubisten und Nazarener
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KUNSTCHRONIK

Neue Folge. XXIV. Jahrgang 1912/1913 Nr. 8. 22. November 1912

Die Kunstchronik und der Kunstmarkt erscheinen am Freitage jeder Woche (im Juli und August nach Bedarf) und kosten halbjährlich 6 Mark.
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leisten Redaktion und Verlagshaudluug keine Oewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E. A. Seemann, Leipzig, Hospitalstr. 11 a.'
Abonnenten der Zeitschrift für bildende Kunst erhalten Kunstchronik und Kunstmarkt kostenfrei. Anzeigen 30 Pf. die Petitzeile; Vorzugsplätze teurer.

KUBISTEN UND NAZARENER
Die lauten Proteste, welche das Auftreten der Ku-
bisten im Herbstsalon verursacht hat, haben diesen
Neuerern noch nicht genügt, oder vielmehr sie haben
ihnen erst recht Lust gemacht, die herrliche Reklame
noch besser ausbeuten. Jetzt gibt es sogar einen eignen
Kubistensalon, worin einige dreißig kubistische Künstler
einige zweihundert ebensolche Werke zeigen. An einem
der letzten Nachmittage hielt Guillaume Apollinaire in-
mitten dieser Gemälde und Skulpturen einen Vortrag über
die kubistische Kunst, und während vor einem Jahre der
Vortrag des Italieners Marinetti in der Futuristenaus-
stellung großen Widerspruch gefunden und eine Schlägerei
veranlaßt hatte, ging es bei den Kubisten sehr friedlich
und manierlich her. Guillaume Apollinaire ist ein Rumäne
oder Bulgare, wenn er nicht gar Türke ist. Er ist unter-
setzt und glatt rasiert, spricht langsam und sieht aus wie
ein wohlgenährter Charcutier. Berühmt wurde er, als
vor einem Jahre die Polizei infolge des Verschwindens
der Mona Lisa aus dem Louvre verrückt geworden war.
Guillaume Apollinaire veröffentlichte damals eine Plau-
derei über die Diebstäle in den Museen, führte aus,
nichts sei leichter als Stehlen in Museen, und erzählte
zur Erhärtung seiner Ansicht eine Geschichte von einem
balkanischen Landsmann, der ihm, Apollinaire, eines
Tages eine aus dem Louvre gestohlene Statuette ge-
schenkt oder verkauft habe. Daraufhin wurde der Schrift-
steller als Hehler oder Diebesgenosse verhaftet und blieb
wirklich ein paar Tage hinter Schioß und Riegel. Jetzt
ist er längst wieder frei und hat sich dem Kubismus,
zugewandt, als welcher nach seiner Ansicht in vier Unter-
ismen zerfällt. Da ist erstens der eigentliche und allein
echte Kubismus, dessen Hauptvertreter Metzinger heißt,
und welchen Apollinaire mit dem Namen Conceptionalis-
mus belegt. Denn diese Kubisten vom Schlage Metzinger
geben nichts auf das wirkliche Aussehen eines Gegen-
standes, sondern folgen nur ihrer Konzeption, also daß
sie sehr wohl, obschon ein Stuhl vier Stempel, einen Sitz
und eine Rücklehne hat, den nämlichen Stuhl mit zwei
Stempeln, ohne Sitz und ohne Rücklehne malen können,
weil sie nun einmal das Ding so konzipieren. Dieses Bei-
spiel führt Apollinaire an, und man kann es wohl dahin
erweitern, daß man auch einen Stuhl mit einem Menschen-
gesicht konzipieren und danach malen kann. Die zweite
Unterabteilung der Kubisten hat Picabia zum Führer und
wird nach Apollinaire Orphismus genannt. Der Name
kommt von Orpheus, und der orphistische Maler zeichnet
sich dadurch aus, daß er überhaupt nichts Gesehenes oder
Existierendes darstellt, sondern nur erdachte, in Wirklich-
keit nicht vorkommende Phantasien. Er malt seine Sen-
sationen, und . so hat Picabia eine Menge roter, schwarzer,
blauer Würfel und Vielecke zusammengestellt, die er
»Musik bei der Prozession in Sevilla« nennt, während eine
andere Sammlung von Vielecken den »Tanz der Quelle«
wiedergibt. Die dritte Abteilung der Kubisten wird von
Leger befehligt und trägt die Etikette Instinktivismus.
Leider habe ich nicht recht verstanden, wodurch sich diese
Truppe vor den andern auszeichnet; ihre Malerei schien
mir der Metzingers nahe vermandt, vielleicht ein klein

wenig rätselhafter. Noch mehr drückt mich der Um-
stand, daß ich den Titel der vierten Abteilung ganz und
gar vergessen habe, obgleich ich weiß, daß Henry Gleize
hier der Bannerträger ist. Henry Gleize malt nach meinem
Laienurteile ungefähr so wie Leger und Metzinger, und
wie bei diesen beiden kann auch bei ihm nur der in die
Mysterien dieser sogenannten Kunst Eingeweihte etwas
von der Sache verstehen. Jedenfalls aber zeigt diese Aus-
stellung der Kubisten, daß die Blätter, welche für den
Kubismus die in Paris so zahlreichen ausländischen Künstler
verantwortlich machen möchten, durchaus unrecht haben:
in der Kubisten-Ausstellung sind beinahe nur Werke von
waschechten Franzosen zu sehen, und alle genannten vier
Führer sind Franzosen, obschon die Namen Picabia und
Metzinger nicht gerade französisch klingen. Dafür hat ihr
literarischer Advokat Guillaume Apollinaire einen sehr
schönen französischen Namen, obgleich er aus dem Bal-
kan an den Seinestrand gekommen ist. Die Sache gleicht
sich also aus.

Sowohl die italienischen Futuristen vor einem Jahre
als auch jetzt die französischen Kubisten und gemeiniglich
alle Fumisten, die durch ungeheuerliche künstlerische
Paradoxe den braven Bourgeois »epatiren« wollen, haben
alsbald einen schlauen Kunsthändler gefunden, der ihnen
seine elegant und luxuriös eingerichteten Ausstellungssäle
zur Verfügung stellte, und die ganze Presse hat sich ein-
gehend mit ihren Offenbarungen beschäftigt. Das ist sehr
bezeichnend, wenn man jetzt zu den französischen Naza-
renern wandert, die man an ganz anderm Orte aufsuchen
muß, und die gerade darum dem Besucher sympathisch
werden. Fern von den Boulevards und den aristokra-
tischen und plutokratischen Vierteln, wo die bekannten
Kunsthändler und ihre Kunden hausen, weit hinter dem
Quartier latin, auf dem Montparnasse, der zum Pariser
Künstlerviertel geworden ist, seit der Montmartre sich in
das Pläsierviertel internationaler Müßiggänger verwandelt
hat, finden wir die Nazarener in der Passage de l'Astro-
labe. Das Finden ist nicht so leicht wie bei den Kubisten
und Futuristen, denn kein Plakat, kein äußeres Anzeichen
meldet uns, daß wir am Orte angelangt sind. Obgleich
man uns das Lokal genau beschrieben hat, müssen wir
uns durch Fragen weiterhelfen und wenden uns an einen
biedern Metzgerburschen, der vor seinem Laden steht und
die Fleischstücke zurechtschneidet:

»Wissen Sie etwas von einer Kunstausstellung hier
herum?«

»Freilich,« sagt der Mann, »sie ist sogar hier im näm-
lichen Haus. Gehen Sie nur den Gang da durch, dann
geht es im Hof rechts die Treppe hinauf.«

Der Gang ist gerade breit genug, daß ein mäßig be-
leibter Mensch sich durchzwängen kann. Elegant oder
auch nur sehr sauber ist er nicht. Er führt uns in einen
ebenso engen, ebenso unreinlichen und, das rechte Wort
zu sagen, ärmlichen Hof, wo wir uns nach der Treppe
umschauen. Eine von oben erschallende Stimme hilft uns auf
den rechten Weg: es geht eine schmale und steile Hühner-
steige hinan, die oben zu zwei kleinen Proletarierkammern
führt. Diese beiden Kammern, die sicherlich keine drei-
hundert Franken jährliche Miete kosten, bergen die Aus-
 
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