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Kunstwart und Kulturwart — 33,1.1919-1920

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1919)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14436#0042

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Vom tzeute fürs Morgen

Von den Kleinigkeiten

dfk ls Röntgen die berühmten Katho-

denstrahlen entdeckte, da hat gewiß
manchen Phhsiker dcr Gedanke ge-
wurmt: „Das hättest du auch wahr-
nehmcn können, wenn du im rechten
Augenblick hell und scharf genug be-
obachtet hättest! Die Gelegenheit dazu
hast auch du gehabt!" Würden wir jetzt
Plötzlich ins Iahr 2500 versetzt, da
würden wir staunen und immer wieder
staunen, wie vieles „natürlich" ist,
woran im Iahr l9l9 noch gar niemand
dachte, wie vieles so nahe lag, wovon
man damals gar keine Ahnnng hattL
Kleine vorüberhuschende Eindrücke, wie
wir sie alle Tage habcn, enthalten die
Keime zu den größten Entdeckungen der
Zukunst, zu den gewaltigsten Offen-
barungen, zu den bedeutsamsten Lebens-
fortschritten.

Aber auch wenn wir uns selbst mit
den großen Geistcrn dcr Gegenwart und
Vergangenheit verglcichen: Warum er-
leben wir die Natur nicht so schöpferisch
tief, wie sie mächtige Künstler erlebt
haben? Weil unsre Natur cine andere
wäre? Oder weil die Welt ausgeschöpft
ilt? Nem, weil wir es nicht verstehen,
zarte Eindrückc, dic auch wir da und
dort haben, sich inncrlich nähren zu
lassen vom Seelenstoff einer großen
Seele wie ^ sie. Warum ziehen wir
nicht so tiefe, reiche Lcbcnsweishcit aus
unsrem Alltag wie Goethe? Weil wir
ein weniger bcdcutsames Leben haben?
Nein, weil wir das Einzelne und Klcine
nicht in einen so herrlichen Geistes-
spiegcl schauen lassen wie er. Warum
fehlt uns die religiösc Grötze, die wir
an dcn alten Prvpheten bewundern?
Weil unser Leben oberflächlicher gewor-
dcn ist? Nein, im Grund deshalb, weil
wir die Kraft nicht haben, unsre Seele
und unscr Sein so ticfen Lebensoffen-
barungen anzuvertrauen wie sie. In
unscrni Leben liegt der Stoff zum größ-
ten Prophetcnlcbcn und Künstlerleben
und Denkerleben. Wir wissen nur
nichts damit anzufangcn.

„Hier diesen Schlüssel nimm!" Das
kleine Ding? „Erst faß ihn an und
schäh ihn nicht gering!" Er wächst in

meiner Hand! Er leuchtet, blitzt!
„Merkst du nun bald, was man an ihm
besiht?"Dies Zwiegespräch zwischen Me-
phistopheles und Faust — in dcm Augen-
blick, als Faust sich zu den „Müttern"
gezogen fühlt — enthält im Gleichnis
das ganze Geheimnis. Was wir im
alltäglichen Lebensverlauf nicht erwar-
ten, was mit dem nicht übereinstimmt,
wie andre uns Welt und Leben ver-
stehcn gelehrt haben, darauf achten wir
eben gar nicht. Aber kein Leben
ist so arm, datz es nicht neben den hun-
derttausend Eindrücken, die es niit
andern teilt, hundert und aberhundert
Eindrücke gehabt hätte, in denen es
neu und groß war. Wer erwartungsvoll
suchend durch die Straßen geht, entdeckt
Goldstücke und verlorene Kleinodien,
über die Tauscnde achtlos dahin-
gegangen sind. Solche Lebensart ist
hoch überlegen über alle Originalitäts-
hascherei, denn sie sucht nicht die große
Neuheit, sondern die tiefeWahrheit.Achte
es! ist ihre eine Lebenskünst. Halte es!
ist die andre. Wir tretcn in einen ganz
neucu Nang ein als Geister, wenn wir
diese bciden Lebenskünste zu üben vcr-
suchen. Es ist eine Lebensstimmuug
ganz eigener und unglaublich schöpfe-
rischer Art, wenn man sich von den
allerhöchsten Geheimnissen unablässig
umgeben weiß, gerade auch von solchen,
die noch kein Mensch geahnt und aus-
gcsprochen hat. Wir denken an das
Wort Nietzsches, daß die größten Ereig-
nisse nicht unsre lautesten, sondern unsre
stillsten Stunden sind, und an das Wort
Goethes, daß das größte Geheimnis das
offenbare ist. Wir grüßen die tausend
Kleinigkeiten des Lebcns, die uns er-
müdcn wollen: In euch, hinter euch
warten auf uns die Wahrheiten der
kommenden Iahrtausende!

Friedrich Nittelmeyer

Der neue Geist

iest man das Buch von Barbusse
„Das Feuer", so stößt man dort in
einer äußerst ergreifendeu Weise stets
von neuem auf den Gedanken, den der
vierjährige Kricg der allgemeinen
Wehrpflicht und der modernen Technik

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