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Kunstwart und Kulturwart — 33,1.1919-1920

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Heft 3 (1. Novemberheft 1919)
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Lose Blätter
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14436#0142

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„Ach nein, aber eines Tages geschah es — es war ein Feiertag, und ich
graste hinter der Mühle, es wuchsen dort so schöne Disteln, Artischocken —"

„Artischocken!" rief das Maultier entrüftet; — „die essen bei uns die
Kardinäle."

„Nun, es waren auch keine richtigen Artischocken, aber sie schnieckten
köstlich, ich habe nie solche Distelknospen gefressen."

„Ach so", lachte das Maultier, „da haben wir also diesen schönen Tag:
— ein leckerer Schmaus! —"

„Nein, nein!" fiel das Eselein fast erschrocken ein. „Ich erwähnte das
nur, weil an dem Tag alles so wunderbar schien. Da kamen nämlich zwei
Männer, die ähnelten gar nicht den Müllersknechten; und sie führten mich
fort bis zur Straße nach Ierusalem. Dort standen mehrere Männer, und
einer von ihnen war sehr schön, ja es schien mir, als od er strahlte. Zu
ihm wurde ich geleitet; er streichelte mich und redete sanft zu mir — das
war so sonderbar! Ich hätte nie geglaubt, daß eine Menschenstimme so
klingen könnte — das kitzelte nur so im Ohr. Dann legten sie einen Mantel
über mich, und er setzte sich darauf — ach, wie leicht war er! wie garnichts!
und so gingen wir alle nach Ierusalem. Dort waren alle Leute auf den
Straßen, und wo ich ging, breiteten sie Kleider vor meinen tzufen aus
und winkten mit Palmenblättern und sangen und jauchzten . . ."

„Alles das taten sie dir zu Ehren?" rief das Maultier.

„O nein, nein! wie sollten sie m ich denn ehren? Um des milden, schönen
Mannes willen, den ich trug, taten sie das."

„So, so!" Das Maultier schien beruhigt. — „Na, und was denn weiter?"

„Ia, weiter ist nichts zu erzählen. Nachher kam ich wieder in die Mühle
und wurde geschunden und schleppte mich fast zu Tode und zuletzt ganz
zu Tode, denn mitten auf der Straße blieb ich liegen, und wie ich zu mir
selber kam, war ich hier. Nnd da hatte ich diesen Glanz um meinen Kopf,
und alle Tiere knieten vor mir. Das war mir schrecklich unangenehm, denn
ich schämte mich so, und den Kopf durste ich anfangs gar nicht bewegen;
aber man gewöhnt sich daran. Nur möchte ich gar zu gern wissen, warum
Las geschieht? Meinst du, daß es vielleicht wegen jenes Tages ist? Bis-
weilen denk ich mir das; aber ich habe doch gar nichts getan, ich habe mir
kein Verdienst erworben, so wie du . . . Was meinst du?"

Keine Antwort erfolgte, und das Eselein durfte gar nicht aufsehen; es
erwartete, daß das Maultier es hart anfahren würde — ihm wohl gar
einen Fußtritt versetzen, denn es hatte gewiß sehr dumm gefragt.

Als es sich aber endlich erdreistete, aufzublicken, war der Gefürchtete nir-
gend zu sehen.

Rnd man sagt, das Maultier zeige sich seitdem nie, wo das Eselein grast.

Vom tzeute fürs Morgen

„Tapfer sündigen"

ein Wort ist Luther so übel ge-
nommen worden wie das an Me-
lanchthon gerichtete: „Gott macht nicht
selig die scheinbaren Sünder. Sei ein
Sünder und sündige tapfer, aber tapfe-
rer vcrtraue und freue dich in Lhristo!"
Wir können es sehr gut verstehn, daß

sich die moralische Welt vor diesem
Wort und vor dem Manne, der es
über die Lippen bringen konnte, be-
kreuzt hat. Aber wir tun bei der
Entrüstung doch nicht mit. Wir ahnen
hier eine der letzten und tiefsten Wahr-
heiten, die nur eine absichtlich scharfe
und zum Nachdenken zwingende Aus-
 
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