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Kunstwart und Kulturwart — 33,1.1919-1920

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Heft 4 (2. Novemberheft 1919)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14436#0211

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Vom Aeute fürs Morgen

Totenfeste

s ist wieder die Zeit der Totenfeste,
und was bedeuten sie jetzt, wo das
größte Sterben der Menschheit noch
nicht einmal vorüber ist, wo es immer
rwch weiter „Menschenopfer unerhört",
wer weiß, wie viele, fordern wird!
Totenfeste bedeuten dem Einzelnen ja
vor allem ein AeuaufbrennLn der
Tranerwunden. Doch dies muß Ziel
all derer sein, die sich seelisch in Zucht
haben: sich nicht nur bewußt zu halten,
daß sie verloren haben, sondern:
daß sie also einst hatten, und das
wieder heißt: daß sie n o ch haben, wenn
sie treu sind. Schon das Gedenken
an gute Menschen, die einst nnser
waren, !erhebt uns ja über das Gemeine,
und alles, was wir ihnen verdanken,
erst recht. Auch das Volk als Ganzes
sollte seine Totenfeste nicht nur als
Gedenktage an die einzelnen Toten auf-
fassen, sondern zugleich als Gedenktage
an das Ganze, das dem Volke ge-
storben ist. Auch in diesem verlorenen
Ganzen waren Werte, deren wir alle
genossen habeu. Wenn diese Werte
mitsterben mußten mit dem, was krank
und greisenhast war, so wollen wir,
die wir über den Brodel der Parteien
hinausstreben, dieser Werte dennoch
dankbar gedenken. Was davon in uns
weiter arbeiten kann, hat unser Eigen-
tum zu bleiben, was vergehen mußte,
das hat uns gerade die Aufgabe hinter-
lassen: ersetzt mich durch uoch Wert-
volleres, das leben kann. A

Statisttk und Mystik

ie Statistik scheint dcr alleräußerste
Gegensatz zur Mystik zu sein. Und
sie ist es auch. Sie kümmert sich um
nichts als um Iahlen. Das Außeror-
dentliche hat für sie kein Jnteresse, es
sei denn, daß man unter Ansetzung
größerer Zeiträume auch das Außer-
ordentliche zu zählen anfangen könnte.
In Nacht und Finsternis versinkt ein
Menschenleben — die Statistik fragt:
wieviel durchschnittlich im Iahr? In
welchem Mlonat am meisten? Steigende
oder fallende Tendenz? Aus welchen

Ständen? Welchen Berufen? Welches
Alter? Mänulich? Weiblich?

Dickens liebte die Konfrontation der
Statistik mit dem lebendigen Schicksal,
Das war die eine der Quellen für
seinsn grimmigsten Humor. Iene Stelle,
wo die Nationalökonomen dem armen
Straßentrotter seine Silvester-Kuttel-
flecke aufessen, während sie ihm vor-
rechnen, wieviel Volksvermögen damit
durchgebracht würde, wenn alle armen
Dienstleute täglich zu Abend Kuttel-
flecke äßen. Oder die Stelle, wo das
Schulkind nicht begreifen kann, weshalb
es tröstlich sein soll zu wissen, wic-
viel Kinder jährlich verhungern.

Was für schreckliche Schicksale wer-
den nicht statistisch gezählt! Verrückt-
werden, Kindermord, Säufertod, nichts
entzieht sich dieser kalten und harten
Wissenschaft. Andrerseits freilich kann
sie nur zählen, was zählbar ist. In-
nere Zustände sind ihr unzugänglich.
Aber nicht die äußeren Ausbrüche der
Zustände.

Die Mhstik im äußersten Gegen-
satz dazu scheint erst ausruhen zu kön-
nen, wo sie das äußere Geschchen über-
sehen und die Zahl leugnen darf. Zeit-
losigkeit, innere Versenkung bis zum
Vergessen der Lebensbedürfnisse. Sie
verbindet das vor tausend Iahren und
das Heute, das Heute und das
Weltenöe.

Iener Mönch, der in junger Iugend
dem Gesang eines kleinen Vögleins
nachging und, als er zurückkam, ein
anderes Menschengeschlecht wiederfand.
Oder umgekehrt jener Sultan, der die
Hand ins Wasserbecken tauchte urrd er-
lebte lange Schicksale, Meersahrt und
Schiffbruch, Gefangenschaft, langjährige
Zwangsarbeit, Heirat im fernen Land,
Kinder mrd Enkel, und eines Tags wich
dieses wunderliche Leben von ihm —
eben, als er die Haird aus dem Becken
wieder heraushob, seine Großen nm
ihn wie einst, und keine Minute seit
damals verstrichen.

Statistik und Mhstik schcinen gewiß
nichts gemein zu haben. Desto auf-
fälliger ist es, daß gerade rein sta-
 
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