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Kunstwart und Kulturwart — 33,1.1919-1920

DOI Heft:
Heft 5 (1. Dezemberheft 1919)
DOI Artikel:
Adler, Max: Massengeselligkeit und Mythos
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https://doi.org/10.11588/diglit.14436#0254

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MaflengeselligkeiL und MYLHos

^^)rieg bedeuter unter auderm auch potenziertes Gemeinschaftserleben. Wer
^^deu sich die Heimkehrenden aus der Verbundenheit im Schlamm und Gas--
^ ^qualm der Schützengräben wieder in die umzirkelte Isoliertheit bürgerlicher
Nützlichkeitsspekulationen Zurückfinden? Schöpferische und schöpfungheischende
Kräfte des Mitempfindens stehen heute losgebunden zwischen dem Ich und Du.
Werden die Massen nach diesem Kriege die Pausen mit jener Zufalls»
geselligkeit ausfüllen können, aus der sie zu gemeinsamem Tun auf dem
Schlachtfelde erweckt wurden? Werden sie nicht vielmehr des stärksten seelischen
Gegengewichts bedürfen gegen die rein äußerliche Lebensbewertung, gegen das
herabziehende Einerlei der Spezialitäten im kommenden harten Wirtschafts--
kampf? Und wird nicht eine gläubigere Wirklichkeitsschätzung den weltstädtischen
Pseudorausch entthronen, die echte Gemeinsamkeitsfreude erhöhen, die Tore der
Phantasie öffnen, neue Quellen des Mythos erklingen lassen?

Nur das kollektive Wollen, nicht die himmelanstrebende Persönlichkeit hat
seit jeher an der Erschaffung des Mythos teilgenommen. Niemand weiß, wer
die Gcstalten der deutschen Heldensage erfunden hat. Niemand kennt die
Schöpfer unserer wahrsten und tiefsten Volkslieder. Man weiß nur, daß sie
immer dort entstanden sind, wo Menschen zu geselligem Erleben sich fanden: bei
Tanz und Trinkgelag, bei der Arbeit und im Soldatenlager. Mit erstaunlicher
Shmbolhaftigkeit offenbart sich der gesellige Ursprung der Mhthenbildung bei
der Schöpfung der Zauberrunen im finnischen „Kalewala". Iwei sitzen ein°-
ander mit verschlungenen Händen beim festlichen Mahle gegenüber: der Runen--
sänger und sein Gehilfe. Wie die Zähne eines Rades greifen, zu dem takt--
Mäßigen Hinüber und Herüber der durch die Hände in Eins verflochtenen Körper,
Sanzvers und Halbvers, immcr wieder wechselseitig aufgenommen und aufs
Neue ergänzt, ineinander. Dem großen Gemeinsamkeitsgcfühl entblüht die Kraft
der Rune, die mehr als Sang: die Tat und Schöpfung ist; nicht Sache der
Kinder und Mädchen, sondern der Waffenmächtigen und Weisheitsvollen, die
ihren Platz auf der Sitzbank haben. Der große Runenzauberer singt: irnd es
tönt das Dach, der Boden erdröhnt, die Decke erklingt, es heult die Türe, „alle
Fenster schrei'n vor Freude und das Haar der Iuugfrau jubelt". Den schön
geschmückten Schlitten des Gegners singt er in den See als schlichtes Strauchwerk,
seine perlenreiche Peitsche weht am Meeresstrand als Schilfrohr, sein weiß--
stirniges Roß erstarrt als Steinblock am Wasserfall... Das ist die alles be--
Zwingende Macht des gemeinschaftgezeugten Mythos.

Ein zufällig--oberflächenhaftes Sichfinden ersetzte uns bisher die naturmächtige
^eselligkcit der Massen. Die einigenden, zielweisenden Symbole, die Voraus-
sttzung des Mythos sind, wurden uns fremd. An den Stätten organisierten
künstlerischen Genießens herrschte der artistisch-repräsentative Stil, der die un°
soziale Grundstimmung der modernen Persönlichkeit mit solch unheimlicher
Schärfe spiegelt. Man wandte sich lediglich an die Schaulust, bestenfalls an
kste sozialpshchologische Neugierdc des Publikums. Die verschütteten Zentren
stincs Gemcinsamkeitsempfindens blieben unberührt.

Der Krieg hat dieses große, mystische Gemeinsamkeitsempfinden der Vielen,
uremals Vielzuvielen wiedererzeugt, das der naturgeschaffene, säftereichc Stamm
"er Mythen und Shmbole ist. Wird das wunderwüchsige Holz noch grünen,
^enn es nun gilt, ein elementares, traditionsgesättigtes Volleben in 5)aus,
Werkstatt und Geselligkcit wieder zu Ehren zu bringen, die Dämonie des Alltags

die der aristokratische Dämonismus mancher neuerer Dichter so gerne über-
fliegt —, die bürgerliche Romantik aufs neue zu entdecken und sorgsam zu
huten?

Man wird sich wicder daran erinnern müssen, daß jeder Begriff neben seiner
Dernunft auch seine Tradition hat, daß ohne die Mhthenüberlieferung des
2olkes auch jede dichterischc, künstlerische und sozialkulturelle Schöpfung ins
5ecre, ^rundlose greift. August Comte wußte sehr wohl, weshalb er in
 
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