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Kunstwart und Kulturwart — 33,1.1919-1920

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1919)
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Lose Blätter
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14436#0311

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Liebe und Gemeinsamkeit, welche mir aus dem Schlummer eines halbeu
Iahrtausends erwacht scheinen. Denn wem dürfte ich vertranen, dürfte ich
Gott und seinem Evangelium noch vertrauen, wenn ich diesen höchsten Evan--
gelisten der Menschheit nicht glauben wollte? Darum rmfe ich auch mit dem
alten tzeiden Livius: Fata viam invenient. Das überfetze ich mir in
aller Kürze.- „Gott verläßt keinen Deutschen, wenn er sich selbst nicht verläßt;
Geist und Gedanken werden endlich das VaterlaNd finden und schaffen,
welches in diefen jüngsten Iahren wieder vergeblich gesucht worden ist. Wir
haben viele Hinundherläufe gemacht, wir werden nochl viele Anläufe und
Rückläufe machen, auch manche Iahre noch machen — doch wir haben die
lebendigste Sehnfucht nach dem Schatze, der gefunden werden soll, und
sprechen abermals: Fata viam invenient!

Vom Heute fürs Morgen

Wunderglaube

ie Weihnachtsgeschichte ist voller
Wunder. Wenn jenrals, dann sind
gerade in der Weihnachtszeit auch wir
Menschen von heute geneigt, die Wun-
dersprache der Kinder und Einfältigen
mitzureden. Aber wenn wir wieder
zn uns selbst znrückkehren, dann ver--
sinkt diese Wunderwelt. Muß das so
sein und besteht keine Aussicht, daß
wir auch der wunderdurchtränkten Aber-
lieferung der Vergangenheit gegenüber
wieder gläubiger werden? Freilich, die
Hereinversetzung der Aberwelt in die
raum-zeitliche Körperlichkeit werden wir
nicht erneuern können. Die Engel flie-
gen nicht in der materiellen Luft, und
unsere Sinne sind nicht fähig, himm-
lische Wesenheiten wahrzunehmen. Das
ist ja auch die selbstverständliche Vor-
aussetzung der alten Berichte, daß das
Wunder durch einen übersinnlichen An-
stoß erregt und nur von einer auf die
Äberwelt eingestellten Seele erfaßt wird.
Aber auch die „wissenschaftliche" An-
sicht, daß wir es bei den Wundern,
wenn wir sie literarisch betrachten, nur
mit Dichtung oder Mhthus zu tun
hätten, oder daß, wenn wir überhanpt
auf ihnen zugrnndeliegeirde Erlebnisse
zurückzugehen wagen, als solche ledig-
lich Illusionen urrd Hallnzinationen, die
wir in diesem Fall nur lieber schonend
Visionen nennen, in Betracht kämen,
will nns nicht mehr genügen. Lrfah-
rungen, wie sie namentlich auch wäh-
rend der Kriegszeit von einzelnen ver-
tranenswürdigen Menschen gemacht
wurden, stellten die dauernde Gültig-

keit des dargelegten: Lntweder kör-
perliche Wirklichkeit — oder Dichtung
und Mythus, Fllnsion und Hallnzi-
nation, in Frage. Es könnte ja eine
für gewöhnlich hinter der phhsischen
Welt verborgene Wirklichkeit höherer
Ordnung geben, die sich uns erschließt,
wenn sich in unsrer Seele ein Organ
regt, das fähig ist, sie wahrzunehmen.
Ls liegt nahe, an die Erlebnisse des
Genies zu erinnern. Wenn etwa Mo-
zart davon spricht, daß er eine nene
Symphonie vom Anfang bis zmn Ende
innerlich höre, wobei alles auf ein-
mal und zugleich in unbeschreiblicher
Harmonie erklinge, dann werden wir
eine wirkliche Berührung seiner Seele
mit einer höheren Welt annehmen.
Was er hört, müßten in ähnlicher
Weise auch andere Menschen hören
können, wenn sie nur ein Organ dafür
hätten. Da ihnen dieses fehlt, ahnen
sie die höhere Welt nicht und halten
wohl gar den Bevorzugten, weil er so
ganz anders organisiert ist als sie, für
einen von der Aorm abweichenden
Menschen. Auf dem religiösen Lebens-
gebiet verhält es sich> ganz ähnlich. Die
Aberwelt ist da, der Himmel tut sich
auf, die Klarheit des Herrn leuchtet
hervor. Einige Begnadete sehen das,
weil ihre Seele feinsichtiger ist, aber
die anderen gehen neben ihnen ihren
Weg, ohne etwas anderes als Wolken
und Sterne zu erschauen, und schüt-
teln das Haupt über die seltsamen Ge-
sährten, die sehen wollen, was doch,
weil es für sie nicht da ist, nberhaupt
nicht da sein darf. Der Sehende ist

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