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NEUE WIENER INNENRÄUME
Die Wiener Architektur befindet sich seit nunmehr 10 Jahren
in einer eigentümlichen, schwierigen Lage. Das Ende des
Krieges hat wohl die bis dahin mannigfach gebundenen und
abgelenkten Kräfte wieder frei gemacht, aber die seitdem
herrschenden wirtschaftlichen Verhältnisse — von den poli-
tischen ganz zu schweigen — haben diesen Kräften die besten
Felder für ihre selbständige Betätigung versperrt. Denn das
großartige Bauprogramm der Gemeinde Wien war und blieb
in der Hauptsache auf Anstalten für die allgemeine Hygiene
und Fürsorge und auf das Massenwohnhaus gerichtet. Seine
außerordentliche soziale Bedeutung steht, vor allem im Ver-
gleich mit den früheren verkommenen Verhältnissen, über
jedem Zweifel. Auch ist hier, im idealen Gegensatz zu dem
früheren offiziellen Bauwesen, welches immer nur einige
wenige, mehr oder minder begabte Günstlinge beschäftigt
hatte, allen Tüchtigen, also auch den modernen Talenten die
Gelegenheit der Mitarbeit gewährt worden. Aber ihrem Ge-
staltungsvermögen hat das Unternehmen einen von vornherein
nur sehr engen Kreis von typischen Aufgaben bieten können,
die mit ihren ersten reinen Lösungen jeweils auch schon fast
endgültig erledigt waren.
Unter solchen Umständen mußten sich die Wiener Bau-
meister, wollten sie nicht ihre lebendige Kraft im unfrucht-
baren, weil aussichtslosen Entwurf erschöpfen, wieder einmal
nach außen umsehen. Und das ist auch wirklich geschehen.
Je später je mehr haben sie die Bewegungsfreiheit, die ihnen
in der Heimat versagt blieb, im Auslande gesucht und ge-
funden, Frank hat in Schweden, Loos, aber auch andere, wie
etwa Hoffmann und Augenfeldt, haben in der Tschecho-
slowakei Villen gebaut, Holzmeister und Oerley sind mit
diversen staatlichen Anlagen in Angora befaßt, in Frankfurt
arbeitet eine junge Wiener Künstlergruppe, darunter Franz
Schuster, am Siedlungswesen. Wieder einmal ist unsere Kunst
in eine Art kolonialen Dienst gedrängt. Nicht nur gegen
ihren besseren Willen, sondern auch gegen den besseren Sinn
jeder echten Baukultur. Denn in gesunden Zeiten kommt eine
solche Abwanderung aus dem Überschuß an Begabungen,
heute kommt sie aus dem Mangel an heimischen Arbeits-
möglichkeiten.
Man wird sich diesen heiklen Zustand vor Augen halten
müssen. Denn nur wenn man ihn kennt, wird man auch die
beiden Ausstellungen von Innenräumen, die jetzt gleichzeitig
— im Museum am Stubenring und im Künstlerhaus am Karls-
platz — zu sehen sind, richtig, wesentlich verstehen. An
vollen, freien Verwirklichungen, wie sie allein das Bauwerk
ermöglicht, verhindert, suchen die Künstler im Innenraum
alles zu sagen, was sie zu sagen haben. Sie bieten hier nicht
nur Musterstücke von Stuben verschiedener Bestimmung, also
nicht nur Lösungen des jeweils gegebenen, einmaligen Einzel-
falles, sondern darüber hinaus grundsätzliche Proben ihrer
Raumgestaltung, die den Sinn und Charakter ihrer Arbeits-
weise umfassend dartun sollen.
Vor zwei Jahren war es anders. Da hatten die Wiener Groß-
tischler die Sache in die Hand genommen, die Künstler waren
nur ihre Helfer. Infolgedessen war, was aus einer so geord-
neten Arbeitsgemeinschaft entstand, eine Art qualitativer
Fertigware, auf den Käufer bedacht, für dessen unmittelbaren
Gebrauch bestimmt. Diesmal ist die Ordnung umgekehrt.
Die Initiative liegt beim Künstler. Er zeigt — im Beispiel
komprimiert — die ganze Art seiner räumlichen Kunst.
Eben deshalb fehlt jetzt sowohl das Typische wie das Soziale.
Eben deshalb ist keiner dieser Räume ohne weiteres in die
Wirklichkeit übertragbar.
Oder, um gleich genauer zu sein: Man sieht hier Einzel-
möbel, vor allem die beglückend rein und leicht entwickelten
Stücke von Thonet-Mundus und Haus & Garten und dann
die interessanten Versuche, mit denen Franz Singer auf dem
Wege exakter Berechnung und Mechanisierung das Problem
einer neuen Möbelökonomie verfolgt, sieht also auch das
wichtige Typenwerk im Gange. Und im Künstlerhaus herrschen
die Lösungen von einmaligen, bestimmten Einzelfällen vor:
Hier zeigt Clemens Holzmeister, entschlossen und kräftig,
die Wohnung seines Skihauses für Kitzbühel, Otto Prutscher
zwei Stuben von sauberer, sachkundiger Arbeit, Armand
Weiser in sinnfälliger, praktikabler Durchführung die Kom-
bination von zwei Zimmern in einem Bürgerhause. Dies alles
ist, wie gesagt, nicht Experiment, sondern Wirklichkeit, ist
Erledigung einer fest gegebenen und umgrenzten Aufgabe,
woran natürlich auch der Wunsch und Geschmack des Bestellers
seinen Anteil hat.
Das Übrige aber steht grundsätzlich für sich. Als „Aus-
stellung Wiener Raumkünstler" will es am Beispiel den
schaffenden Geist, Art, Ordnung und Idee der modernen
Raumkunst am Orte zeigen. Hier herrscht, bewußt, das
Experiment. Aber unbehindert durch die Einmischung des
Auftraggebers, zeigt jedes dieser Experimente um so reiner den
Charakter des Urhebers. Und die Summe dieser Experimente
zeigt — über den Innenraum hinaus — die Richtung, Spannung
und Bewegung, kurzum den lebendigen Augenblick der Wiener
Baukunst.
Keiner dieser Räume ließe sich, so wie er ist, in ein fertiges
Haus einbauen. Das verhindern schon die selbständigen Di-
mensionen, das verhindern nicht weniger so ungewöhnliche
Motive wie etwa eine Pfeilerstellung oder eine dreifache Ab-
stufung. Doch auf diese unmittelbare Nutzbarkeit kommt es
hier nicht an. Wohl aber darauf, daß sich in jedem Falle
jener Raumsinn des Künstlers durchsichtig kundgibt, der sich
in jedem andern praktischen Falle wesensgleich kundgeben
wird. In diesem Wesensnachweis liegt die eigenartige Be-
deutung der Ausstellung. Sie bietet vielleicht — was ihre
Widersacher infolge eines tiefen Mißverständnisses beklagen
— keinen einzigen „normalen" Raum, aber sie bietet in jedem
einzelnen die Möglichkeiten aller Räume, sofern diese in die
Weise der betreffenden Architekten fallen.
Man sieht ihren Geist am Werke: In dem weiten, mit blau-
grauem Rips verkleideten Musikzimmer von Josef Hoffmann
NEUE WIENER INNENRÄUME
Die Wiener Architektur befindet sich seit nunmehr 10 Jahren
in einer eigentümlichen, schwierigen Lage. Das Ende des
Krieges hat wohl die bis dahin mannigfach gebundenen und
abgelenkten Kräfte wieder frei gemacht, aber die seitdem
herrschenden wirtschaftlichen Verhältnisse — von den poli-
tischen ganz zu schweigen — haben diesen Kräften die besten
Felder für ihre selbständige Betätigung versperrt. Denn das
großartige Bauprogramm der Gemeinde Wien war und blieb
in der Hauptsache auf Anstalten für die allgemeine Hygiene
und Fürsorge und auf das Massenwohnhaus gerichtet. Seine
außerordentliche soziale Bedeutung steht, vor allem im Ver-
gleich mit den früheren verkommenen Verhältnissen, über
jedem Zweifel. Auch ist hier, im idealen Gegensatz zu dem
früheren offiziellen Bauwesen, welches immer nur einige
wenige, mehr oder minder begabte Günstlinge beschäftigt
hatte, allen Tüchtigen, also auch den modernen Talenten die
Gelegenheit der Mitarbeit gewährt worden. Aber ihrem Ge-
staltungsvermögen hat das Unternehmen einen von vornherein
nur sehr engen Kreis von typischen Aufgaben bieten können,
die mit ihren ersten reinen Lösungen jeweils auch schon fast
endgültig erledigt waren.
Unter solchen Umständen mußten sich die Wiener Bau-
meister, wollten sie nicht ihre lebendige Kraft im unfrucht-
baren, weil aussichtslosen Entwurf erschöpfen, wieder einmal
nach außen umsehen. Und das ist auch wirklich geschehen.
Je später je mehr haben sie die Bewegungsfreiheit, die ihnen
in der Heimat versagt blieb, im Auslande gesucht und ge-
funden, Frank hat in Schweden, Loos, aber auch andere, wie
etwa Hoffmann und Augenfeldt, haben in der Tschecho-
slowakei Villen gebaut, Holzmeister und Oerley sind mit
diversen staatlichen Anlagen in Angora befaßt, in Frankfurt
arbeitet eine junge Wiener Künstlergruppe, darunter Franz
Schuster, am Siedlungswesen. Wieder einmal ist unsere Kunst
in eine Art kolonialen Dienst gedrängt. Nicht nur gegen
ihren besseren Willen, sondern auch gegen den besseren Sinn
jeder echten Baukultur. Denn in gesunden Zeiten kommt eine
solche Abwanderung aus dem Überschuß an Begabungen,
heute kommt sie aus dem Mangel an heimischen Arbeits-
möglichkeiten.
Man wird sich diesen heiklen Zustand vor Augen halten
müssen. Denn nur wenn man ihn kennt, wird man auch die
beiden Ausstellungen von Innenräumen, die jetzt gleichzeitig
— im Museum am Stubenring und im Künstlerhaus am Karls-
platz — zu sehen sind, richtig, wesentlich verstehen. An
vollen, freien Verwirklichungen, wie sie allein das Bauwerk
ermöglicht, verhindert, suchen die Künstler im Innenraum
alles zu sagen, was sie zu sagen haben. Sie bieten hier nicht
nur Musterstücke von Stuben verschiedener Bestimmung, also
nicht nur Lösungen des jeweils gegebenen, einmaligen Einzel-
falles, sondern darüber hinaus grundsätzliche Proben ihrer
Raumgestaltung, die den Sinn und Charakter ihrer Arbeits-
weise umfassend dartun sollen.
Vor zwei Jahren war es anders. Da hatten die Wiener Groß-
tischler die Sache in die Hand genommen, die Künstler waren
nur ihre Helfer. Infolgedessen war, was aus einer so geord-
neten Arbeitsgemeinschaft entstand, eine Art qualitativer
Fertigware, auf den Käufer bedacht, für dessen unmittelbaren
Gebrauch bestimmt. Diesmal ist die Ordnung umgekehrt.
Die Initiative liegt beim Künstler. Er zeigt — im Beispiel
komprimiert — die ganze Art seiner räumlichen Kunst.
Eben deshalb fehlt jetzt sowohl das Typische wie das Soziale.
Eben deshalb ist keiner dieser Räume ohne weiteres in die
Wirklichkeit übertragbar.
Oder, um gleich genauer zu sein: Man sieht hier Einzel-
möbel, vor allem die beglückend rein und leicht entwickelten
Stücke von Thonet-Mundus und Haus & Garten und dann
die interessanten Versuche, mit denen Franz Singer auf dem
Wege exakter Berechnung und Mechanisierung das Problem
einer neuen Möbelökonomie verfolgt, sieht also auch das
wichtige Typenwerk im Gange. Und im Künstlerhaus herrschen
die Lösungen von einmaligen, bestimmten Einzelfällen vor:
Hier zeigt Clemens Holzmeister, entschlossen und kräftig,
die Wohnung seines Skihauses für Kitzbühel, Otto Prutscher
zwei Stuben von sauberer, sachkundiger Arbeit, Armand
Weiser in sinnfälliger, praktikabler Durchführung die Kom-
bination von zwei Zimmern in einem Bürgerhause. Dies alles
ist, wie gesagt, nicht Experiment, sondern Wirklichkeit, ist
Erledigung einer fest gegebenen und umgrenzten Aufgabe,
woran natürlich auch der Wunsch und Geschmack des Bestellers
seinen Anteil hat.
Das Übrige aber steht grundsätzlich für sich. Als „Aus-
stellung Wiener Raumkünstler" will es am Beispiel den
schaffenden Geist, Art, Ordnung und Idee der modernen
Raumkunst am Orte zeigen. Hier herrscht, bewußt, das
Experiment. Aber unbehindert durch die Einmischung des
Auftraggebers, zeigt jedes dieser Experimente um so reiner den
Charakter des Urhebers. Und die Summe dieser Experimente
zeigt — über den Innenraum hinaus — die Richtung, Spannung
und Bewegung, kurzum den lebendigen Augenblick der Wiener
Baukunst.
Keiner dieser Räume ließe sich, so wie er ist, in ein fertiges
Haus einbauen. Das verhindern schon die selbständigen Di-
mensionen, das verhindern nicht weniger so ungewöhnliche
Motive wie etwa eine Pfeilerstellung oder eine dreifache Ab-
stufung. Doch auf diese unmittelbare Nutzbarkeit kommt es
hier nicht an. Wohl aber darauf, daß sich in jedem Falle
jener Raumsinn des Künstlers durchsichtig kundgibt, der sich
in jedem andern praktischen Falle wesensgleich kundgeben
wird. In diesem Wesensnachweis liegt die eigenartige Be-
deutung der Ausstellung. Sie bietet vielleicht — was ihre
Widersacher infolge eines tiefen Mißverständnisses beklagen
— keinen einzigen „normalen" Raum, aber sie bietet in jedem
einzelnen die Möglichkeiten aller Räume, sofern diese in die
Weise der betreffenden Architekten fallen.
Man sieht ihren Geist am Werke: In dem weiten, mit blau-
grauem Rips verkleideten Musikzimmer von Josef Hoffmann