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Oberrheinische Kunst — 1.1925/​1926

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Sommer, Clemens: Madonnenfiguren vom Oberrhein
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https://doi.org/10.11588/diglit.54484#0026

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Clemens Sommer

digungen erlitten. Abgesehen davon, daß beide Arme des Kindes und die rechte Hand der Mutter fehlen,
ist auch die ganze Oberfläche zermürbt und abgeschliffen und zudem mit einem rohen weißen Ölfarben-
anstrich überzogen, der alle etwa noch vorhandenen Feinheiten völlig verbirgt. Trotz diesem schlechten
Erhaltungszustände geht aber von dem Werke ein ganz besonderer Reiz aus, der wohl vor allem dem
starken seelischen Gehalt zuzuschreiben ist. Denn unter den zahlreichen Madonnendarstellungen, die uns
aus der Spätgotik am Oberrhein überliefert sind, werden sich nicht viele finden, in denen das innige
Verhältnis von Mutter und Kind zu schönerem Ausdruck gebracht ist. Ausgeglichene Ruhe und mütterliche
Zärtlichkeit sprechen aus den regelmäßigen Zügen des leichtgeneigten Frauenantlitzes. Und wie einerseits
durch das weite Herumgreifen des linken vom Mantel umhüllten Armes der Mutter, in dessen Falten das
Kind fest und sicher wie in einem Nest sitzt, das Gefühl des Geborgenseins hervorgerufen wird, wie anderer-
seits die Wendung des Kindergesichtes nach aufwärts die beiden Köpfe in eine Beziehung zueinander
setzt, die den Eindruck innigsten Verbundenseins erweckt — das sind Züge, die eines bedeutenden Meisters
würdig sind. Unwillkürlich werden dabei Erinnerungen an Nicolaus Gerhaerts gefühlstarke Schöpfungen
wach oder an ein Meisterwerk wie die Dangolsheimer Madonna im Kaiser-Friedrich-Museum. Diesem
überaus starken seelischen Gehalt der Figur steht der künstlerische Aufbau entschieden nach. Vor
allem die Gewandbehandlung ist merkwürdig unbefriedigend. Die ruhig herabfallenden Flächen des den
ganzen Unterteil der Gestalt verhüllenden Mantels werden von den sonderbaren röhrenförmigen Falten-
zügen in fast unschöner Weise unterbrochen und aufgelöst, so daß ein ganzes Netz sich kreuzender harter Linien
entsteht und der ruhevolle Eindruck stark beeinträchtigt wird. Störend ist auch die eigenartig übertriebene
Stilisierung der Haare, die in einzelne Strähnen aufgeteilt als starre Spiralen herabhängen. Diese Haar-
behandlung, die in der späten oberrheinischen Kunst höchstens in der, allerdings ungleich geistvolleren,
des Breisacher Meisters eine Parallele hat1, scheint mir vor allem für eine ziemlich späte Datierung unserer
Figur zu sprechen, wie ja auch das feste geruhige Stehen, die ganze ins Breite gehende Tendenz den
Geist der neuen Zeit verraten. In das zweite Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts mag ihre Entstehung fallen.
Ungleich weniger erfreulich ist der Eindruck, den die zweite Figur (Abb. y)2 3 hinterläßt. Allerdings
kommt davon einiges auf Kosten der neuen, dickaufgelegten Fassung, die von außergewöhnlicher Roheit ist.
Doch ist auch unter diesem Überzug nicht viel Gutes zu erwarten. Ohne weiteres läßt sie sich als eine rein
handwerkliche Arbeit erkennen, die näherer Beachtung kaum wert wäre, wenn sie nicht in fast jedem Zuge
verriete, daß dem unbedeutenden Verfertiger ein Vorbild gedient haben muß, das von außergewöhnlichem
Reichtum ist. Daß die erste Figur, die viele gemeinsame Züge aufweist — ich erwähne hier nur die
Ähnlichkeit der Typen und der Haarbehandlung — nicht allein zugrunde liegen kann, ist ohne weiteres
klar. Es gilt also das Urbild, das vielleicht beiden gemeinsam ist, ausfindig zu machen.
Und dieses Vorbild findet sich auch in Gestalt der wundervollen Madonnenfigur (Abb. 2), die das
Glanzstück der einstigen Sammlung Spetz-Isenheim bildete. Über das Schicksal dieses Werkes wie der Samm-
lung überhaupt, die einen bedeutenden Schatz oberelsässischer mittelalterlicher Kunst enthielt, berichtete
vor kurzem Josef Walter in einer elsässischen Zeitschrift8. Hiernach ist die Sammlung fast geschlossen
1 Eine ähnliche Stilisierung der Haare zeigen in der gleichen Zeit die Figuren des Schwabacher Hochaltares.
Abb. bei Bier, Nürnbergisch-Fränkische Bilderkunst (Bonn 1922) Abb. 60 und 61.
2 Katalog Nr. 12S. — Höhe 119 cm.
3 Archives Alsaciennes d’histoire de l’art, Troisieme annee, Straßburg 1924, S. 1—14.

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