Madonnenfiguren vom Oberrhein
ins Ausland verkauft worden — ein äußerst schmerzlicher Verlust für den elsässischen Kunstbesitz. Die
»Madonna von Isenheim« aber wurde, als der Abschluß des Verkaufes nahe bevorstand, als »monument
historique« unter Schutz gestellt und wanderte kurze Zeit darauf in die Skulpturenabteilung des Louvre!
Die Einordnung dieses ganz hervorragenden Stückes in die Entwicklungslinie der spätgotischen
Plastik des Oberrheins ist meines Wissens bisher nicht versucht worden1. Und auch J. Walters darauf
bezügliche Eröterungen geben in dieser Richtung nichts Wesentliches. Seiner Meinung, »es scheine nicht
wahrscheinlich, daß die Figur dem Atelier des Nicolaus Gerhaert von Leyden2 3 entstamme«, kann man
ja ohne weiteres beipflichten, da es — eine Binsenwahrheit ist. Trennt doch ein Zeitraum von fast
40 Jahren die Isenheimer Madonna von den Straßburger Arbeiten dieses Meisters. Und nicht minder
nach Verlegenheit klingt der Hinweis auf den Schongauerstil (in Gesichtsform und Gewandbehandlung),
den man schließlich in irgend einer Weise bei fast jedem Werke elsässischer spätgotischer Kunst mehr oder
weniger stark dokumentiert finden kann. Mit diesen vagen Andeutungen läßt sich für die Erkenntnis der
Figur ebensowenig etwas anfangen, wie mit den daran anschließenden ikonographischen Erörterungen.
Wir müssen uns deshalb, da der jetzige Aufenthaltsort des Werkes die Autopsie und den Vergleich mit
andern oberelsässischen Arbeiten fast ausschließt und infolgedessen eine eingehendere Beschäftigung mit
ihm vorläufig nicht möglich sein wird, mit der Tatsache abfinden, daß die Isenheimer Madonna auch
weiterhin ihre isolierte Stellung innerhalb der oberrheinischen Plastik behält. Wichtig ist immerhin,
daß wir wenigstens ihre Herkunft kennen: sie kommt aus der Antoniter-Präzeptorei in Isenheim, aus der
auch der Grünewald-Altar mit seinen hervorragenden Skulpturen stammt. Und in der Nähe des Meisters
dieser Figuren — zeitlich ihm vielleicht etwas voraus — werden wir wohl auch den Künstler suchen müssen,
der die Spetzsche Madonna geschaffen hat, d. h. in dem Kreis der Straßburger Kunst des beginnenden
16. Jahrhunderts8. Für die Straßburger Herkunft scheint mir auch die ausgesprochen »weltmännische«
Haltung des Werkes zu sprechen, die, wie Schmitt4 mit Recht hervorhebt, ein Charakteristikum dieser
Kunst ist.
Sehl- überraschend ist nun das Ergebnis einer Gegenüberstellung der Madonna der Sammlung Spetz
mit den beiden Jechtinger Figuren. Erweist sich doch sofort die Geringere von ihnen als nicht mehr
und nicht weniger wie eine getreue Kopie. So getreu, daß es für diese Zeit ganz ungewöhnlich erscheint,
die zwar eine einmal gefundene künstlerische Lösung in unendlichen Variationen zu wiederholen liebte, aber
doch immer bestrebt war — selbst in handwerklichen Arbeiten —, einer derartigen Lösung jedesmal neue
Seiten abzugewinnen. Hier ist kaum ein Versuch dazu. Mit ängstlicher Sorgfalt sucht der Kopist jeden
kleinsten Faltenzug des Originals nachzubilden. (Wenn nicht der ganze Befund es ausschlösse, wäre man
fast versucht, an eine Kopie des ip. Jahrhunderts zu denken.) Die natürliche Folge ist, daß der Reiz
des Vorbildes vollständig verloren geht. Gerade die wichtigsten Gestaltungsprinzipien, der Gegensatz des
1 Zuerst abgebildet bei S. Hausmann, Elsässische und lothringische Kunstdenkmäler, Tafel 116, woher auch unsere
Abbildung. — Eine günstigere Aufnahme sowie Detailaufnahme der oberen Partie bei Walter a. a. O. S. 4 u. 5. —
O. Schmidt (Oberrh. Plastik im ausgehenden Mittelalter Freiburg, Urban-Verlag, 1924) erwähnt die Figur merkwürdiger-
weise nicht.
2 Daß im Text „Luc de Leyde“ steht, wird wohl auf einem Schreibfehler beruhen.
3 Eine entfernte Verwandtschaft im Gewandstil, aber nur in diesem, scheint vorhanden. Vgl. die Abbildungen des
Isenheimer Altares bei Schmitt a. a. O. Tafel 78—87, besonders die des sitzenden Antonius, Tafel 79.
4 A. a. O. S. 40.
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ins Ausland verkauft worden — ein äußerst schmerzlicher Verlust für den elsässischen Kunstbesitz. Die
»Madonna von Isenheim« aber wurde, als der Abschluß des Verkaufes nahe bevorstand, als »monument
historique« unter Schutz gestellt und wanderte kurze Zeit darauf in die Skulpturenabteilung des Louvre!
Die Einordnung dieses ganz hervorragenden Stückes in die Entwicklungslinie der spätgotischen
Plastik des Oberrheins ist meines Wissens bisher nicht versucht worden1. Und auch J. Walters darauf
bezügliche Eröterungen geben in dieser Richtung nichts Wesentliches. Seiner Meinung, »es scheine nicht
wahrscheinlich, daß die Figur dem Atelier des Nicolaus Gerhaert von Leyden2 3 entstamme«, kann man
ja ohne weiteres beipflichten, da es — eine Binsenwahrheit ist. Trennt doch ein Zeitraum von fast
40 Jahren die Isenheimer Madonna von den Straßburger Arbeiten dieses Meisters. Und nicht minder
nach Verlegenheit klingt der Hinweis auf den Schongauerstil (in Gesichtsform und Gewandbehandlung),
den man schließlich in irgend einer Weise bei fast jedem Werke elsässischer spätgotischer Kunst mehr oder
weniger stark dokumentiert finden kann. Mit diesen vagen Andeutungen läßt sich für die Erkenntnis der
Figur ebensowenig etwas anfangen, wie mit den daran anschließenden ikonographischen Erörterungen.
Wir müssen uns deshalb, da der jetzige Aufenthaltsort des Werkes die Autopsie und den Vergleich mit
andern oberelsässischen Arbeiten fast ausschließt und infolgedessen eine eingehendere Beschäftigung mit
ihm vorläufig nicht möglich sein wird, mit der Tatsache abfinden, daß die Isenheimer Madonna auch
weiterhin ihre isolierte Stellung innerhalb der oberrheinischen Plastik behält. Wichtig ist immerhin,
daß wir wenigstens ihre Herkunft kennen: sie kommt aus der Antoniter-Präzeptorei in Isenheim, aus der
auch der Grünewald-Altar mit seinen hervorragenden Skulpturen stammt. Und in der Nähe des Meisters
dieser Figuren — zeitlich ihm vielleicht etwas voraus — werden wir wohl auch den Künstler suchen müssen,
der die Spetzsche Madonna geschaffen hat, d. h. in dem Kreis der Straßburger Kunst des beginnenden
16. Jahrhunderts8. Für die Straßburger Herkunft scheint mir auch die ausgesprochen »weltmännische«
Haltung des Werkes zu sprechen, die, wie Schmitt4 mit Recht hervorhebt, ein Charakteristikum dieser
Kunst ist.
Sehl- überraschend ist nun das Ergebnis einer Gegenüberstellung der Madonna der Sammlung Spetz
mit den beiden Jechtinger Figuren. Erweist sich doch sofort die Geringere von ihnen als nicht mehr
und nicht weniger wie eine getreue Kopie. So getreu, daß es für diese Zeit ganz ungewöhnlich erscheint,
die zwar eine einmal gefundene künstlerische Lösung in unendlichen Variationen zu wiederholen liebte, aber
doch immer bestrebt war — selbst in handwerklichen Arbeiten —, einer derartigen Lösung jedesmal neue
Seiten abzugewinnen. Hier ist kaum ein Versuch dazu. Mit ängstlicher Sorgfalt sucht der Kopist jeden
kleinsten Faltenzug des Originals nachzubilden. (Wenn nicht der ganze Befund es ausschlösse, wäre man
fast versucht, an eine Kopie des ip. Jahrhunderts zu denken.) Die natürliche Folge ist, daß der Reiz
des Vorbildes vollständig verloren geht. Gerade die wichtigsten Gestaltungsprinzipien, der Gegensatz des
1 Zuerst abgebildet bei S. Hausmann, Elsässische und lothringische Kunstdenkmäler, Tafel 116, woher auch unsere
Abbildung. — Eine günstigere Aufnahme sowie Detailaufnahme der oberen Partie bei Walter a. a. O. S. 4 u. 5. —
O. Schmidt (Oberrh. Plastik im ausgehenden Mittelalter Freiburg, Urban-Verlag, 1924) erwähnt die Figur merkwürdiger-
weise nicht.
2 Daß im Text „Luc de Leyde“ steht, wird wohl auf einem Schreibfehler beruhen.
3 Eine entfernte Verwandtschaft im Gewandstil, aber nur in diesem, scheint vorhanden. Vgl. die Abbildungen des
Isenheimer Altares bei Schmitt a. a. O. Tafel 78—87, besonders die des sitzenden Antonius, Tafel 79.
4 A. a. O. S. 40.
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