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Oberrheinische Kunst — 1.1925/​1926

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Hartlaub, Gustav Friedrich: Die Neuerwerbungen der Mannheimer Kunsthalle
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https://doi.org/10.11588/diglit.54484#0088

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G. F. Hartlaub

kunstgewerblichen Allüren und seinen nervös mystischen Sensationen gemahnt. Er war im Begriff, sich
in einem neuerstandenen, vergeistigten Impressionismus zu verjüngen und zu erweitern. Das von der
Kunsthalle erworbene Bild hat ein Gegenstück, das man kürzlich auf der Züricher Internationalen Aus-
stellung sah. Beide sind Vorfrühlingslandschaften. Auf dem Mannheimer Gemälde fesselt die reiche Farbe
der vor dem Hauseingang stehenden Dekorationspflanzen. Solche Dinge sind impressionistisch vor der Natur
entstanden und in einer sehr reichen Skala lebhafter, erregender Farbwerte gehalten. Der besondere Stim-
mungscharakter Munchscher Visionen spricht aber auch hier: in dem alten, ein wenig gespenstischen
Gärtner vor dem dunklen Hintergrund der Bäume und in den wie geisterhaft umherhuschenden Hunden
im Vordergrund.
Die Abteilung französischer Malerei, wie sie in dem bekannten Manetsaal der Kunsthalle ver-
einigt ist, wirkt so in sich geschlossen und zeigt ein dermaßen hohes und gleichmäßiges Niveau, daß die
Ergänzung und Erweiterung doppelt verantwortungsvoll und auch nicht unmittelbar dringlich erscheint
— so wünschenswert es auch wäre, im Laufe der Zeit einen figürlichen Renoir und eine Landschaft von
van Gogh, einen Gauguin und andere kostbare Stücke hinzu zu erwerben. Die einzigste Bereicherung, die
dem Manetsaal neuerdings eingefügt werden konnte, eine kleine Pariser Straßenansicht (Kirche Ste-Marguerite)
von Utrillo, paßt sich indessen der Gesamtwirkung des französischen Kunstsaales glücklich und wie selbst-
verständlich ein. Ist doch Maurice Utrillo, der heute vielerörterte und mit Recht gepriesene Maler, der
wahre und legitime Erbe der großen impressionistischen Kunstüberlieferung Frankreichs, ohne doch bloß
ihr Epigone zu sein. Der strenge, gleichsam architektonische Bau unseres Bildes, die zusammengehaltenen
Flächen, die wundervollen weißen Helligkeiten, alles das sind Dinge, die Utrillo allein zu eigen sind und
mit denen er sich zugleich als ein Künstler der heutigen sachlichen Gesinnung ausweist. Schon die An-
schaffung des Gemäldes von Utrillo rechtfertigt wohl die Absicht, französische Malerei auch über die bisher
eingehaltene Grenze, wie sie durch das herrliche Arbeiterbild Cezannes gegeben war, in die jüngste
Gegenwart hinein zu verfolgen. Ob deutsche Kunst von heute mit der Generation der Derain, Mattisse,
Picasso in so fruchtbarer Wechselwirkung gestanden hat wie einst mit den großen Impressionisten bis
van Gogh, läßt sich noch nicht völlig übersehen. Wahrscheinlich ist die deutsche Malerei seit Beginn
des Expressionismus gegenüber der westlichen viel selbständiger und mündiger geworden. Trotzdem dürfen
die Führer der neuen Kunst in Frankreich auf die Dauer in einer so programmatischen und auf Zeit-
ausdruck angelegten Sammlung wie der Mannheimer nicht fehlen. Vorläufig wurde nur eine stimmungsvolle
Ansicht eines Dorfes im Schnee von dem französisch-vlämischen Meister Maurice de Vlaminck erworben
(geb. 1886), eine Arbeit seiner letzten Zeit, da er sich von den Nachwirkungen Cezannes ebenso wie von den
bisher bevorzugten Motiven zugunsten eines herberen, kräftigeren Stils und eines pastoseren Farbenauftrags
befreit hat. Sehen wir von einer kleinen trefflichen Bronze des in Paris lebenden Bildhauers Manolo ab,
so ist eine bedeutsame L an ds ch aft des meist in Paris lebenden Russen M ar c C h ag all das Letzte, was
von tonangebender ausländischer Kunst für die Sammlungen erworben werden konnte. Es handelt sich
um eine große Ansicht der Geburtsstadt Chagalls, Witebsk. Tief Volkstümliches, Bäuerlich-Russisches,
Primitiv-Mystisches mischt sich mit den Verfeinerungen westlicher Malkultur. Das traumhafte Bild mit
dem großen, in blauer Dämmerung schwimmenden Blockhaus im Vordergrund und dem Horizont voll
schiefer Kuppeln und Türme, mit der einsamen Magd in der Tür, mit dem verlassenen Zaun und dem
Schwein, das vor der Haustüre wühlt, ist als Motiv von Chagall wiederholt behandelt worden, Die Vor-

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