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Oberrheinische Kunst — 1.1925/​1926

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Goldschmidt, Adolph: Ein Minnekästchen des 13. Jahrhunderts
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https://doi.org/10.11588/diglit.54484#0116

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Adolph Goldschmidt

Die Baumkrone zeigt die gleiche Art der Schraffur wie die Ausfüllung des Schlüsselloches, die sonst nicht
vorkommt. Die linke Kante schmückt eine Rauten- und Dreiecksgravierung, wie sie ähnlich in der Mitte
der zweiten modernen Platte auftritt, nämlich der Burg, in der unten ein Mann mit einem großen Löffel
steht, oben ein Insasse herausschaut. Bei diesen beiden Streifen weiß man nicht, ob Fragmente der alten
Anlaß zum Gegenstand gegeben haben, oder ob dieser rein erfunden ist. Sicher ist das letztere der Fall bei
dem dritten modernen Stück, nämlich dem linken Eckstreifen auf der Kurzseite mit den Musikern. Dieser ist
eine genaue gegenseitige Kopie des Nachbarstreifens, mit den modernen kleinen stilistischen Unterschieden.
Er hat aber ursprünglich jedenfalls anders ausgesehen, denn zwei solche kopfstehende Tänzerinnen neben-
einander kommen in alten Darstellungen nie vor, und unten haben sich sicherlich nicht zwei Frauen
gegenübergestanden, sondern Mann und Frau wie bei den nebenstehenden Streifen, und wie es der
Lustbarkeitsszene entsprechen würde.
Sieht man von diesen Ergänzungen ab, so ergibt sich immer noch ein sehr buntes Gemisch von
Darstellungen, deren ungefähre Mitte aber auf beiden Langseiten eine Begegnung von Mann und Frau
bilden. Auf der einen Seite sind vier Personen beieinander in einem Gebäude, das mittlere Paar küßt
sich, das Haar der Frau fällt lang herab, das Bein des Jünglings tritt kokett aus dem langen geschlitzten
Rock hervor. Die Begleiter, der Mann in einen Mantel gehüllt, die Frau mit einem Kopftuch sind hier-
durch als die älteren Vertrauten gekennzeichnet, welche die Liebesszene beschützen. Herr Professor
Eduard Wechsler, den ich wegen der Deutung um Rat fragte, wies mich darauf hin, daß es sich hier
vermutlich um eines der meistbesungenen Liebespaare der Minnepoesie des Mittelalters handle, um Lanzelot
und Genievre, die Gemahlin König Artus’, und ihre Vertrauten, die Dame von Malehaut und den Ritter
Galehaut, die bei dem ersten Kuß gewissermaßen Schildwache standen. Der poetische Zauber dieser Szene,
auf die auch Dante zweimal in seiner Göttlichen Komödie anspielt, im fünften Gesang des Inferno und
im sechzehnten des Paradieses, und die Paolo Malatesta und Francesca zum ehebrecherischen Kuß ver-
führte, ist hier zwar in keiner Weise zum Ausdruck gebracht, sondern in derber, ungeschickter Weise
sind die Figuren nebeneinander gereiht, mit den gleichen unschönen Gesichtern und ohne feinere Aus-
führung im einzelnen. Der Begleiter und die Begleiterin erscheinen dann zum zweitenmal unter einem
Baum in der Mitte der andern Langseite des Kastens. Sie werden im Roman durch die Königin zu einem
zweiten Liebespaar verbunden, vielleicht beraten sie auch, wie die Begegnung ihrer Schützlinge zu be-
werkstelligen ist, die zuerst unter Bäumen stattfand, wie der Roman erzählt. Weiter sehen wir auf der-
selben Seite zweimal einen Mann aus dem Burgtor kommen, einmal mit drei Hunden, die auf einen
Ausgang zur Jagd deuten, einmal ohne Beigaben, falls sie nicht mit dem Nachbarstreifen verlorengegangen
sind. Zwischen beiden streckt sich ein Drache auf steinigem Boden aus, am Fuße der Burg, die oben
mit Männern besetzt ist, zuvorderst dem in das Horn blasenden Wächter, während auf der zweiten Burg
ein Krieger einen Stein zu schleudern scheint und sich seinerseits mit dem Schild deckt. Wir würden
ihm gegenüber also einen Angreifer erwarten. Den Teil rechts auf derselben Seite füllen zwei riesen-
große Krieger in Panzerrock und Haube mit entblößtem Schwert und gestützt auf hohe Schilde, wie zwei
ausruhende Wächter. Weiter rechts herumgehend kommen wir über die Kurzseite mit der Lustbarkeits-
szene zu der Langseite mit der Kußszene. An diese letztere schließt sich links eine Hirschjagd im Walde
mit Vögeln und einem Drachen an, rechts der Kampf mit einem Bären, in dem das Tier und der Jüngling
in fester Umarmung dastehen, während ein zweiter Mann mit der Keule ihm zu Hilfe zu kommen scheint.

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