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Kleinjung, Christine; Johannes Gutenberg-Universität Mainz [Contr.]
Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter (Band 11): Bischofsabsetzungen und Bischofsbild: Texte - Praktiken - Deutungen in der politischen Kultur des westfränkisch-französischen Reichs 835-ca. 1030 — Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2021

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.74403#0238
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7. Zwischenfazit: Gerbert und die Produktion von Wissen über das Bischofsamt

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der weltlichen und der geistlichen Sphäre, für das Ineinandergreifen von
Reichsversammlung und Synode steht, hatte man in St. Basie als Vorbild ge-
nommen: die Absetzung Ebos von Reims.
Das „Nachspielen" des karolingischen Prozesses musste scheitern. Auch
wenn in der Karolingerzeit die potestas bereits auf mehrere Akteure aufgeteilt
war, so kam doch dem Hof als kulturellem und politischen Zentrum eine fakti-
sche und symbolische Bedeutung zu, die für die Verhandlungen/Prozesse gegen
Bischöfe nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Der Hof und die Hoföf-
fentlichkeit hatten um 1000 nun eindeutig nicht mehr dieselbe Funktion. Auch
die Anwendung von Wissensbeständen stößt hier auf Grenzen. Einerseits waren
die Inszenierung und die gemeinsame Verständigung auf Werte, ein gemeinsa-
mes Verständnis der politischen Kultur nicht mehr gegeben. Andererseits
scheiterte auch Gerberts Inszenierung der Reimser Eigengeschichte, ein solches
Vorgehen war offenbar nicht mehr tragfähig. Gerbert nutzte das Archiv und die
Struktur, die der Archivar Flodoard den Dokumenten gegeben hat. So nutzte er
den Wissensspeicher der sozio-kulturellen Gemeinschaft, dessen Vorsteher der
Prozess gemacht wird. Aber die Beteiligten erkannten die Relevanz der histori-
schen Exempla und der als Vorbild dienenden Rituale und Inszenierungen nicht
mehr uneingeschränkt an979.
Die Rolle des Archivs als Wissensspeicher wird bei diesem Fall sehr deutlich.
Das Archiv ist mehr als ein Ort, an dem Privilegien lagern. Aber es bedarf einer
Aktivierung. Zunächst ist alles, was darin ist, gleichwertig. Die Texte sind offen,
sie „machen" von sich aus nichts, sie haben im Grund keine Funktion. Sie be-
kommen diese Funktion erst zugewiesen. Gerberts Strategie bestand in der
Transformierung des gespeicherten Wissens in Funktionswissen über die Ab-
setzung eines Bischofs. Hierfür kombinierte er das Wissen um die „Reimser
Eigengeschichte" mit anderen Wissensbeständen.
Im Archiv fand er die Schriften Hinkmars und Flodoards in der Reimser
Bibliothek die Kirchenrechtssammlungen, die auch Hinkmar und Flodoard be-
kannt waren. Auch die von Gerbert neu geschaffenen Wissensbestände über-
dauerten Personen. Sie gingen ebenfalls in das Reimser Archiv ein.
Anders wertet Laurent Jegou das Verhältnis von Normen und Ritualen. Jegou
konstatiert einen Widerspruch zwischen schriftlichen Normen und „außerge-
richtlichen" Formen der Konfliktbeilegung; das heißt, einen Gegensatz zwischen
Laien-Elite und Männern der Kirche980. Jegous These zum Normeinsatz im 10.
und 11. Jahrhundert lautet: Die große Innovation des 10.-11. Jahrhundert beruhe
auf der Tatsache, dass die schriftlichen Normen nicht mehr nur im Zustand von
spekulativen Werken verblieben seien. Sie hätten den Bischöfen vielmehr als
juristische Instrumente gedient, um ihre Interessen durchzusetzen und Konflikte

979 Vgl. zu diesem Phänomen auch die Thesen von Theo Riches, Changing Political Horizons, S. 59
und vgl. auch Reuter, Europe of Bishops, die beide davon ausgehen, dass das Konzept des
Bistums als autonome Einheit scheiterte.

980 Jegou, Eveque, S. 424.
 
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