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Kleinjung, Christine; Johannes Gutenberg-Universität Mainz [Contr.]
Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter (Band 11): Bischofsabsetzungen und Bischofsbild: Texte - Praktiken - Deutungen in der politischen Kultur des westfränkisch-französischen Reichs 835-ca. 1030 — Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2021

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.74403#0339
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338

XII. Zusammenfassung: Anwendung von Wissen in der politischen Kultur

von den bischöflichen Amtsbrüdern an das Amt angelegt wurden, zu bewerten.
D.h. die aus synodalen Verhandlungen hervorgegangenen oder für solche Ver-
handlungen abgefassten Texte waren an ein Publikum gerichtet, dass das Wissen
über diese Maßstäbe teilte. Die historiographischen Berichte hingegen erfüllen
eine Vielzahl verschiedener Funktionen und sind an einzelne „Orte" und Ge-
meinschaften gebunden, wie den Hof, Domkapitel oder Klostergemeinschaften.
In der Geschichtsschreibung geht es weniger um eine abstrakte Kategorisierung
von Verhalten, als um das Erzählen von Exempla, um eine Personalisierung statt
einer Abstraktion. Besonderen Stellenwert haben die in der Historiographie
vorgenommenen nachträglichen Interpretationen von symbolischen Handlun-
gen und Ritualen. Denn für die Verfahren gegen die Bischöfe waren die öffent-
liche Präsentation und die Deutung der politischen Werte in Eiden, Selbstan-
klagen und Sündenbekenntnissen ausschlaggebend. Aus der Performanz ent-
stand Ordnung. Doch verwiesen die Rituale nicht von sich aus auf feste Kon-
zepte, sondern hinter den Handlungen standen unterschiedliche Vorstellungen
von Gruppen und von Vertretern der jeweiligen Gruppen — ganz zu schweigen
von der abweichenden Interpretation durch die Angeklagten. Daher sind alle
Nacherzählungen der Ereignisse in den Prozessen, seien es Narrationes, Gut-
achten oder Briefe — und verstärkt die Berichte in der Historiographie — als
Interpretationen des Geschehens und Stellungnahmen in einem Deutungskampf
zu verstehen. Besonders gut sichtbar wurde die Strategie hinter diesen Stel-
lungsnahmen im Falle Hinkmars von Reims: er hat gezielt verschiedene Text-
gattungen genutzt, um seine Version der Ereignisse und somit seine Erinnerung
und Deutung zu konservieren. Die Darstellungsweise in seinen Annalen und
Rechtsdokumenten weicht dabei stark voneinander ab.
Diese Arbeitsweise erforderte eine Kenntnis der Abläufe bei den Abset-
zungsverfahren. Hinkmar von Reims hatte Zugang zu den Dokumenten, die die
„Schlüsselhandlungen" beschrieben und inserierte viele wörtlich. Es kursierten
aber auch Dokumente im Frankenreich etwa die Verteidigungsschrift im Fall
Gunthars von Köln und Thietgauds von Trier, Texte wurden also gezielt ver-
breitet.
Die Abfassung der Texte zur Präsentation auf den Synoden erforderte ef-
fektive Wissensorganisation, denn es musste kanonistisches Material, Bibel und
Autoritäten aufbereitet werden. Die Generierung von Innovation, von einer in-
novativen Haltung in Bezug auf Bischofsabsetzungen erfolgte durch den Einsatz
von Autoritäten und Tradition. Diese Wissensorganisation ist auf gespeichertes,
vor Ort vorhandenes Wissen angewiesen. Diese Speicherung erfolgte im Archiv
und in der Bibliothek einer geistlichen Institution. Die Konservierung an sich
konnten Akteure noch beeinflussen, nicht aber die spätere Aktivierung dieses
Wissens am selben Ort durch spätere Generationen.
Insofern gehörte im 10. Jahrhundert zur Arbeitsweise auch die Aufarbeitung
von historischem Material. In Reims wurde über die Absetzungen des 9. Jahr-
hunderts auch im 10. Jahrhundert weiter berichtet, sie wurden als Teil der Ei-
gengeschichte des Bistums von Flodoard bearbeitet. Flodoard gab dabei dem
Vergangenen eine neue Deutung, passte Berichte über die Absetzung Ebos der
Wahrnehmung seiner Zeit an. Wir können also seine politischen Vorstellungen
 
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