FRANZ SCHUBERTS EINSTIMMIGE LIEDER.
hoffnungsvollen, erhebenden Ausbllck, den
Schubert zum Schluß geben wolle. Diese Auf-
fassung ist verfehlt; denn die C-Stelle steht zu
Anfang der nicht weniger als dreißig Takte
langen Schluß-Abteilung D; ferner folgen auf
jene Stelle sofort zwei in der Stimme genau
gleiche Takte mit a-moll-Begleitung, und auch
im Folgenden überwiegt Dur nicht; zwar tritt
wieder, auf E-(wigkeit bis Kreise), der C-Akkord
viermal ein, doch nur als Dominante des f-.
Vollends drückt das achtTakte lange Diminuendo-
Nachspiel in c-moll, mit festgehaltenen zwei C
und stufenweise sinkenden Mittelstimmen, das
Ersterben der Hoffnung aus, nebst einem letzten
Pianissimo-Seufzer. Jene erste Fortissimo-Stelle
in C spricht also nur die Macht und Unerbittlich-
keit der Ewigkeit aus, ohne den Verdammten
irgendwelche Hoffnung zu spenden.
Die Gruppe aus dem Tartarus ist seit ihrer
Entstehung bis heute als einer der großartigsten
Gesänge Schuberts anerkannt, so daß weiter
nichts zu ihrem Lob und ihrer Kennzeichnung
gesagt zu werden braucht; selbst die ärgsten
Verächter seiner Schiller-Gesänge haben vor ihr
Hochachtung. Ihre besondere Beliebtheit in
neuerer Zeit mag darin begründet sein, daß sie
Vorahnungen von Wagnerschem Naturalismus
(in Chromatik, Harmonik und Klangeffekten)
bietet, was unsere verwagnerten Zeitgenossen
vertraut anmutet; Schubert gehört eben zu den
Hauptmeistern, die Wagner stark beeinflußten
(Curzon, S. 38, sagt: ,,Une page coloree, un
peu wagnerienne“).
**32g. Elysium, lyr. Lebensbild, 10 Seiten
lang, vom September. Der Text stammt wie
der des vorigen Gesanges aus der Antho-
logie von 1782; beim Neudruck 1803 wurde die
Verteilung an einen Chor (erste Strophe) und
fünf Einzelstimmen aufgehoben. Beide Gedichte
gehörten ursprünglich wohl nicht zusammen;
deshalb bezieht sich das: ,,Vorüber die stöhnende
Klage!“ eigentlich nicht auf die Klage der
Verdammten, sondern auf die Leiden des irdi-
schen Daseins (Viehoff und Düntzer). Da sie
aber seit 1803 hinter einander stehen, so stellt
sich dieser unwesentliche Irrtum leicht ein, und
auch Schubert wird sie als Gegenstücke bald
nacheinander komponiert haben. Minor und
Weltrich halten beide Texte für ursprünglich zu-
sammengehörig. Sie nacheinander von einer
tiefen und einer hohen Stimme singen zu lassen,
wäre eine Aufgabe für einen denkenden Programm-
Aufsteller. Der Text enthält sechs Strophen
von meist sechs Zeilen (Str. 3 hat nur vier);
die drei ersten Strophen sind frei geformt; die
drei letzten zerfallen in je zwei gleiche Hälften.
Die musikalische Form ist: (Str. 1 des Textes)
A Nicht zu langsam 2/2 [eher 4 */,t] in E: Vorspiel
3 Takte, I (Zeile 1—3), II (Z. 4—6), Zwischen-
spiel von 4 Takten, Ix (Z. 1), Nachspiel von
3 Takten. — (Str. 2) B Ziemlich geschwind 2/i
in A: I (Z. 1 — 5), II (Z. 6, doppelt), I, (Z. 1—3),
Nachspiel: 4 Takte. — (Str. 3) C I (Z. 1—2) in
F und Des ; II (Z. 3—4 in fis und Fis); I, (Z. 1—2)
in Fis und D; IL (Z. 3—4) in g und G. —
(Str. 4) D Etwas langsam: a (Z. 1—3) 6/a in Es;
b (Z. 4—6) in As. — (Str. 5) E Lebhaft, ge-
schwind a/2 (fälschlich ,, 4/^“) a (Z. 1—3) i n C,
Es, c; b (Z. 4—6) in Es; a; bx in C. — (Str. 6)
F: a (Z. i —3) Herzlich 3/± in A und E; b (Z. 4 — 6)
Feurig 2/2 („ 4/4“) in A; Nachspiel von 6 T.
Die Form der sechs den Strophen des
Textes entsprechenden Hauptabteilungen ist
demnach so regelmäßig, daß sie auch bei denen
Gnade finden dürfte, welchen Schuberts freier
geformte große Gesänge nicht behagen; auch
kommt ja nichts yon den bösen Rezitativen
vor. Ferner hütet sich die Modulation, bei
allem Reichtum, vor zu vielem und grellem
Wechsel. Der Klavierpart ist besonders klang-
voll und den wechselnden Schilderungen sich
charakteristisch anschmiegend. Man müßte sich
wundern, daß der in jeder Beziehung ausge-
zeichnete Gesang aus einer von Schuberts Glanz-
zeiten im „Lied“ bisher unbeachtet blieb, wenn
die Kenner sämtlicher einstimmigen Gesangs-
werke Schuberts sich das Staunen darüber nicht
längst abgewöhnt hätten. 1 In unserm Falle
kommt die Länge hinzu; bei zehn Seiten sagt
Polonius ja unweigerlich: „das ist zu lang!“,
worauf zu erwidern ist, was Hamlet dazu sagt.
Von Einzelnem ist zu bemerken: Das Nach-
spiel zu Ende von A kehrt genau wieder in der
Klavier-Sonate in E („5 Klavierstücke“, Serie
XI 14) am Ende des ersten Satzes. — In C I
klingt die Sechzehntel-Figur der Rechten von
Takt 6—15 sehr Weber-artig, wie es nicht selten
in Klavierwerken Schuberts dieser Zeit vor-
kommt. — Etwas vor Schluß läßt Schubert in
der Stelle: „ein ewig Hochzeitsfest“ den Vokal
e von „ewig“ ) 1j2 Takte auf e anhalten (dann
eine halbe Note auf f, eine ganze auf fis ver-
weilen und noch ein Melisma von 5 Viertel-
triolen machen [dies eine Erinnerung an eine
Stelle aus dem Mittelstück des Allegrettos von
Beethovens A-Sinfonie]). Dies lange Aushalten
einer Note wegen eines charakteristischen
Zwecks hat Schubert wohl von Gluck, z. B.
im Chor „Parez vos fronts“ aus Alceste die
Solostelle: ,,de vos longues annees“.
1 Friedländer erwähnt „Elysium‘‘ nur an der Stelle,
wo er mit journalistischer Windeseile über acht Schiller-
texte hinweghüpft (siehe S. 238 II Note). Er redet dabei von
„mehrfachen ausgeführten Entwürfen“ der Kompositionen
dieser Texte, ,,bis Schubert die ihn befriedigende Fassung
gefunden“. Dabei verschweigt er, dass er hier Ein- und
Mehrstimmiges durcheinander würfelt; z. B. steht bei
„Elysium“ die besprochene einstimmige Komposition des
Ganzen fünf dreistimmigen Kanons von 1813 gegenüber,
die alle Strophen, au,sser der zweiten, einzeln behandeln.
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hoffnungsvollen, erhebenden Ausbllck, den
Schubert zum Schluß geben wolle. Diese Auf-
fassung ist verfehlt; denn die C-Stelle steht zu
Anfang der nicht weniger als dreißig Takte
langen Schluß-Abteilung D; ferner folgen auf
jene Stelle sofort zwei in der Stimme genau
gleiche Takte mit a-moll-Begleitung, und auch
im Folgenden überwiegt Dur nicht; zwar tritt
wieder, auf E-(wigkeit bis Kreise), der C-Akkord
viermal ein, doch nur als Dominante des f-.
Vollends drückt das achtTakte lange Diminuendo-
Nachspiel in c-moll, mit festgehaltenen zwei C
und stufenweise sinkenden Mittelstimmen, das
Ersterben der Hoffnung aus, nebst einem letzten
Pianissimo-Seufzer. Jene erste Fortissimo-Stelle
in C spricht also nur die Macht und Unerbittlich-
keit der Ewigkeit aus, ohne den Verdammten
irgendwelche Hoffnung zu spenden.
Die Gruppe aus dem Tartarus ist seit ihrer
Entstehung bis heute als einer der großartigsten
Gesänge Schuberts anerkannt, so daß weiter
nichts zu ihrem Lob und ihrer Kennzeichnung
gesagt zu werden braucht; selbst die ärgsten
Verächter seiner Schiller-Gesänge haben vor ihr
Hochachtung. Ihre besondere Beliebtheit in
neuerer Zeit mag darin begründet sein, daß sie
Vorahnungen von Wagnerschem Naturalismus
(in Chromatik, Harmonik und Klangeffekten)
bietet, was unsere verwagnerten Zeitgenossen
vertraut anmutet; Schubert gehört eben zu den
Hauptmeistern, die Wagner stark beeinflußten
(Curzon, S. 38, sagt: ,,Une page coloree, un
peu wagnerienne“).
**32g. Elysium, lyr. Lebensbild, 10 Seiten
lang, vom September. Der Text stammt wie
der des vorigen Gesanges aus der Antho-
logie von 1782; beim Neudruck 1803 wurde die
Verteilung an einen Chor (erste Strophe) und
fünf Einzelstimmen aufgehoben. Beide Gedichte
gehörten ursprünglich wohl nicht zusammen;
deshalb bezieht sich das: ,,Vorüber die stöhnende
Klage!“ eigentlich nicht auf die Klage der
Verdammten, sondern auf die Leiden des irdi-
schen Daseins (Viehoff und Düntzer). Da sie
aber seit 1803 hinter einander stehen, so stellt
sich dieser unwesentliche Irrtum leicht ein, und
auch Schubert wird sie als Gegenstücke bald
nacheinander komponiert haben. Minor und
Weltrich halten beide Texte für ursprünglich zu-
sammengehörig. Sie nacheinander von einer
tiefen und einer hohen Stimme singen zu lassen,
wäre eine Aufgabe für einen denkenden Programm-
Aufsteller. Der Text enthält sechs Strophen
von meist sechs Zeilen (Str. 3 hat nur vier);
die drei ersten Strophen sind frei geformt; die
drei letzten zerfallen in je zwei gleiche Hälften.
Die musikalische Form ist: (Str. 1 des Textes)
A Nicht zu langsam 2/2 [eher 4 */,t] in E: Vorspiel
3 Takte, I (Zeile 1—3), II (Z. 4—6), Zwischen-
spiel von 4 Takten, Ix (Z. 1), Nachspiel von
3 Takten. — (Str. 2) B Ziemlich geschwind 2/i
in A: I (Z. 1 — 5), II (Z. 6, doppelt), I, (Z. 1—3),
Nachspiel: 4 Takte. — (Str. 3) C I (Z. 1—2) in
F und Des ; II (Z. 3—4 in fis und Fis); I, (Z. 1—2)
in Fis und D; IL (Z. 3—4) in g und G. —
(Str. 4) D Etwas langsam: a (Z. 1—3) 6/a in Es;
b (Z. 4—6) in As. — (Str. 5) E Lebhaft, ge-
schwind a/2 (fälschlich ,, 4/^“) a (Z. 1—3) i n C,
Es, c; b (Z. 4—6) in Es; a; bx in C. — (Str. 6)
F: a (Z. i —3) Herzlich 3/± in A und E; b (Z. 4 — 6)
Feurig 2/2 („ 4/4“) in A; Nachspiel von 6 T.
Die Form der sechs den Strophen des
Textes entsprechenden Hauptabteilungen ist
demnach so regelmäßig, daß sie auch bei denen
Gnade finden dürfte, welchen Schuberts freier
geformte große Gesänge nicht behagen; auch
kommt ja nichts yon den bösen Rezitativen
vor. Ferner hütet sich die Modulation, bei
allem Reichtum, vor zu vielem und grellem
Wechsel. Der Klavierpart ist besonders klang-
voll und den wechselnden Schilderungen sich
charakteristisch anschmiegend. Man müßte sich
wundern, daß der in jeder Beziehung ausge-
zeichnete Gesang aus einer von Schuberts Glanz-
zeiten im „Lied“ bisher unbeachtet blieb, wenn
die Kenner sämtlicher einstimmigen Gesangs-
werke Schuberts sich das Staunen darüber nicht
längst abgewöhnt hätten. 1 In unserm Falle
kommt die Länge hinzu; bei zehn Seiten sagt
Polonius ja unweigerlich: „das ist zu lang!“,
worauf zu erwidern ist, was Hamlet dazu sagt.
Von Einzelnem ist zu bemerken: Das Nach-
spiel zu Ende von A kehrt genau wieder in der
Klavier-Sonate in E („5 Klavierstücke“, Serie
XI 14) am Ende des ersten Satzes. — In C I
klingt die Sechzehntel-Figur der Rechten von
Takt 6—15 sehr Weber-artig, wie es nicht selten
in Klavierwerken Schuberts dieser Zeit vor-
kommt. — Etwas vor Schluß läßt Schubert in
der Stelle: „ein ewig Hochzeitsfest“ den Vokal
e von „ewig“ ) 1j2 Takte auf e anhalten (dann
eine halbe Note auf f, eine ganze auf fis ver-
weilen und noch ein Melisma von 5 Viertel-
triolen machen [dies eine Erinnerung an eine
Stelle aus dem Mittelstück des Allegrettos von
Beethovens A-Sinfonie]). Dies lange Aushalten
einer Note wegen eines charakteristischen
Zwecks hat Schubert wohl von Gluck, z. B.
im Chor „Parez vos fronts“ aus Alceste die
Solostelle: ,,de vos longues annees“.
1 Friedländer erwähnt „Elysium‘‘ nur an der Stelle,
wo er mit journalistischer Windeseile über acht Schiller-
texte hinweghüpft (siehe S. 238 II Note). Er redet dabei von
„mehrfachen ausgeführten Entwürfen“ der Kompositionen
dieser Texte, ,,bis Schubert die ihn befriedigende Fassung
gefunden“. Dabei verschweigt er, dass er hier Ein- und
Mehrstimmiges durcheinander würfelt; z. B. steht bei
„Elysium“ die besprochene einstimmige Komposition des
Ganzen fünf dreistimmigen Kanons von 1813 gegenüber,
die alle Strophen, au,sser der zweiten, einzeln behandeln.
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