M LETZTEN D-ZUGWAGEN.
Von W. SCHÄFER.
„Zum Beispiel Thomasschlacke,“ sagte der
aus Soest, der rote Müller, und wollte dem
Studenten sein Beispiel auf der flachen Hand
vor Augen halten, Darüber kam der Stoß und
schmiß ihn von der Bank: „Notbremse,“ wollte
er noch sagen, da gedachte der Kaplan mit
einem Sprung zur Tür sich noch zu retten und
traf ihn mit dem Stiefelabsatz an das Ohr,
daß er aufbrüllend ihm mit seinen Schultern
zwischen die Beine fuhr und ihn schräg auf
den Kopf zu stehen brachte. Es gab noch
einen Ruck, der beide, wie beim Sturm ein
Scheunendach, auf den Studenten warf, dann
stand der Zug.
Da wurde auch das Kindchen der jungen
Frau am Fenster wach, die bei dem Stoß nur
beide Arme vorgebreitet, sonst stillgesessen
hatte. Sie nahm es fester in ihr Tuch, fing
an zu tuscheln und zu wiegen.
Und das Getuschel einer blassen Mutter,
der jetzt erst nach dem Schrecken die Tropfen
aus den Augen rannen, löste die anderen aus der
Todesangst. Der rote Müller stellte den Schwarz-
rock auf die Beine, nicht ohne Artigkeit, und
griff den Riemen, um das Fenster aufzumachen.
Sogleich war im Getrappel vieler Schritte auf
dem Kies auch eine Antwort aus dem Nebel-
schwall zu hören, die wie ein Gummiball ge-
worfen entlang den Wagen an den Müller kam.
Ein Pferd war überfahren worden, ein junges
Tier, das auf der Weide im Morgennebel die
blanken Schienen für den Weg gehalten oder
sonstwie Sprünge gemacht hatte. Nun hing
sein Fleisch in Stücken an den Rädern, und im
Blut von hundert Menschen siedete der Todes-
schrecken, der ihm ins junge Leben gefahren war.
„Da sagen sie, man soll nicht in den letzten
Wagen steigen,“ fing der Müller an, der sich
kaltblütig zeigen wollte, und zog das Fenster
wieder hoch. „Wenn aber jetzt um den ver-
rückten Gaul da vorn der ganze Zug sich auf-
gewickelt hätte“ — er äugte rechts und links
mit Schellfischaugen; die anderen aber waren
nicht gestimmt auf Späße. Die Mutter stand
noch totenblaß und tuschelte mit ihrem Kind,
der Schwarzrock bastelte mit vorgestrecktem Hals
an seinem Kragen, den er ihm aufgerissen hatte,
der Student war auf dem Gang verschwunden.
Er drängte sich ihm nach, an dem Kaplan
vorbei, traf aber an der Tür mit einem dicken
Herrn im Reisepelz zusammen, der vom Stu-
denten hereingeschoben wurde, während über-
all die Wagentüren klappten und die Schaffner
zum Einsteigen riefen. So pätschelte er dem
Schwarzen auf den Rücken: „Setzt Euch, Herr
von der Geistlichkeit! Der Herrgott hat den
Urlaub noch einmal verlängert!“
Der aber wehrte ihn mit beiden Händen ab
und setzte sich ans Fenster, der jungen Mutter
gegenüber, die jetzt ihr Kindchen leise schau-
kelte, so daß für den Studenten zwischen Müller
und Kaplan ein breiter Platz blieb; auch für
den Herrn im Reisepelz, der neben die Frau zu
sitzen kam. Der Zug tat einen Ruck, blieb
aber stehen.
„Der hat den Glauben noch nicht wieder,“
fing der aus Soest schon wieder an und zwinkerte
vor dem Studenten her nach dem Kaplan, der
mühsam schweigend durch das Fenster in den
Nebel sah. Dem dicken Herrn schien das nicht
angenehm; er richtete die goldene Brille unver-
wandt auf den Studenten und tippte ihm mit
seinem Ring am kleinen Finger scherzend auf
die Hand: „Wie kannst du dritter Klasse reisen.
Da müssen wir ein Pferd zuschanden fahren,
sonst hätten wir bis Minden im selben Zug ge-
sessen und nichts davon gewußt.“
Der aber sah ihn an aus blauen und ver-
träumten Augen; so fand der Soester Zeit zu
einem Einfall, der ihm ein paarmal um die
Lippen zuckte: dann möchten sie gefälligst
auch dem Bauer sein Pferd bezahlen, wenn sie
es sich zum Wiedersehn geopfert hätten. Dar-
über mußte der Student doch lachen, obwohl
er nach dem Dicken sah; der schließlich auch.
So kamen sie in ein Gespräch vom Tod und Leben,
vornehmlich aber von dem Tod und wie man sich
vor ihm benähme. Nun war der Mann im Reise-
pelz — ein Fabrikant aus Minden und der Onkel
vom Studenten — trotz seiner Dicke ein ge-
wandter Kopf, der sich in solchen Fragen nicht
unbelesen zeigte und manches Wort vom Da-
sein klüglich wiedergab: Der Tod sei grausam
und nicht auszudenken, wenn man ihn nur vom
Leben aus als Sensenmann betrachte. Man müsse
sich gewöhnen, ihn als die Quelle, vielmehr den
rätseltiefen Urgrund alles Lebens, als Ewigkeit,
und unser Leben als das Wunder zu betrachten,
für eine Stunde aufzusteigen und Gott gleich das
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Von W. SCHÄFER.
„Zum Beispiel Thomasschlacke,“ sagte der
aus Soest, der rote Müller, und wollte dem
Studenten sein Beispiel auf der flachen Hand
vor Augen halten, Darüber kam der Stoß und
schmiß ihn von der Bank: „Notbremse,“ wollte
er noch sagen, da gedachte der Kaplan mit
einem Sprung zur Tür sich noch zu retten und
traf ihn mit dem Stiefelabsatz an das Ohr,
daß er aufbrüllend ihm mit seinen Schultern
zwischen die Beine fuhr und ihn schräg auf
den Kopf zu stehen brachte. Es gab noch
einen Ruck, der beide, wie beim Sturm ein
Scheunendach, auf den Studenten warf, dann
stand der Zug.
Da wurde auch das Kindchen der jungen
Frau am Fenster wach, die bei dem Stoß nur
beide Arme vorgebreitet, sonst stillgesessen
hatte. Sie nahm es fester in ihr Tuch, fing
an zu tuscheln und zu wiegen.
Und das Getuschel einer blassen Mutter,
der jetzt erst nach dem Schrecken die Tropfen
aus den Augen rannen, löste die anderen aus der
Todesangst. Der rote Müller stellte den Schwarz-
rock auf die Beine, nicht ohne Artigkeit, und
griff den Riemen, um das Fenster aufzumachen.
Sogleich war im Getrappel vieler Schritte auf
dem Kies auch eine Antwort aus dem Nebel-
schwall zu hören, die wie ein Gummiball ge-
worfen entlang den Wagen an den Müller kam.
Ein Pferd war überfahren worden, ein junges
Tier, das auf der Weide im Morgennebel die
blanken Schienen für den Weg gehalten oder
sonstwie Sprünge gemacht hatte. Nun hing
sein Fleisch in Stücken an den Rädern, und im
Blut von hundert Menschen siedete der Todes-
schrecken, der ihm ins junge Leben gefahren war.
„Da sagen sie, man soll nicht in den letzten
Wagen steigen,“ fing der Müller an, der sich
kaltblütig zeigen wollte, und zog das Fenster
wieder hoch. „Wenn aber jetzt um den ver-
rückten Gaul da vorn der ganze Zug sich auf-
gewickelt hätte“ — er äugte rechts und links
mit Schellfischaugen; die anderen aber waren
nicht gestimmt auf Späße. Die Mutter stand
noch totenblaß und tuschelte mit ihrem Kind,
der Schwarzrock bastelte mit vorgestrecktem Hals
an seinem Kragen, den er ihm aufgerissen hatte,
der Student war auf dem Gang verschwunden.
Er drängte sich ihm nach, an dem Kaplan
vorbei, traf aber an der Tür mit einem dicken
Herrn im Reisepelz zusammen, der vom Stu-
denten hereingeschoben wurde, während über-
all die Wagentüren klappten und die Schaffner
zum Einsteigen riefen. So pätschelte er dem
Schwarzen auf den Rücken: „Setzt Euch, Herr
von der Geistlichkeit! Der Herrgott hat den
Urlaub noch einmal verlängert!“
Der aber wehrte ihn mit beiden Händen ab
und setzte sich ans Fenster, der jungen Mutter
gegenüber, die jetzt ihr Kindchen leise schau-
kelte, so daß für den Studenten zwischen Müller
und Kaplan ein breiter Platz blieb; auch für
den Herrn im Reisepelz, der neben die Frau zu
sitzen kam. Der Zug tat einen Ruck, blieb
aber stehen.
„Der hat den Glauben noch nicht wieder,“
fing der aus Soest schon wieder an und zwinkerte
vor dem Studenten her nach dem Kaplan, der
mühsam schweigend durch das Fenster in den
Nebel sah. Dem dicken Herrn schien das nicht
angenehm; er richtete die goldene Brille unver-
wandt auf den Studenten und tippte ihm mit
seinem Ring am kleinen Finger scherzend auf
die Hand: „Wie kannst du dritter Klasse reisen.
Da müssen wir ein Pferd zuschanden fahren,
sonst hätten wir bis Minden im selben Zug ge-
sessen und nichts davon gewußt.“
Der aber sah ihn an aus blauen und ver-
träumten Augen; so fand der Soester Zeit zu
einem Einfall, der ihm ein paarmal um die
Lippen zuckte: dann möchten sie gefälligst
auch dem Bauer sein Pferd bezahlen, wenn sie
es sich zum Wiedersehn geopfert hätten. Dar-
über mußte der Student doch lachen, obwohl
er nach dem Dicken sah; der schließlich auch.
So kamen sie in ein Gespräch vom Tod und Leben,
vornehmlich aber von dem Tod und wie man sich
vor ihm benähme. Nun war der Mann im Reise-
pelz — ein Fabrikant aus Minden und der Onkel
vom Studenten — trotz seiner Dicke ein ge-
wandter Kopf, der sich in solchen Fragen nicht
unbelesen zeigte und manches Wort vom Da-
sein klüglich wiedergab: Der Tod sei grausam
und nicht auszudenken, wenn man ihn nur vom
Leben aus als Sensenmann betrachte. Man müsse
sich gewöhnen, ihn als die Quelle, vielmehr den
rätseltiefen Urgrund alles Lebens, als Ewigkeit,
und unser Leben als das Wunder zu betrachten,
für eine Stunde aufzusteigen und Gott gleich das
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