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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 10.1905

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Nr. 9
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Valentiner, Wilhelm Reinhold: Eugène Fromentins "die alten Meister"
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Nr. 10
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Hamann, Richard: Das Hundertguldenblatt
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Hackemann, August: Adalbert Stifter: ein Erinnerungsblatt zum 23. Oktober 1905, dem Tage der 100. Wiederkehr seines Geburtstages
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https://doi.org/10.11588/diglit.26235#0161

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DAS HUNDERTGULDENBLATT.

bärtigen Alten, der den Kopf vorstreckt, die
Worte einzusaugen. Das Erschütterndste aber
jener Mann mit den abgehärmten Zügen, der
ganz zusammengesunken ist, die Hand an den
Mund hält und dessen Augen ganz weit ge-
worden sind. Regungslos verharren sie alle,
als ob alle äußeren Organe abgestorben, und
nur ein unerschöpfliches Maß von Seele und
Gemütsbewegung leuchtet in den Gesichtern
auf. Rembrandt hat dafür gesorgt, daß wir aus
dem Bann dieser von Weihe und Benommen-
heit erfüllten Atmosphäre wieder herausgelangen.
Diese Gruppe setzt sich nach vorn fort in der
Frau mit dem Kind auf dem Arm, die nur
vom Rücken gesehen, sehr fest, positiv dasitzt.

DALBERT STIFTER.

EIN ERINNERUNGSBLATT ZUM
23. OKTOBER 1905, DEM TAGE DER 100.
WIEDERKEHR SEINES GEBURTSTAGES.

Von Aug. Hackemann.

Adalbert Stifter war über die Fünfzig hinaus,
die Zeit seines besten Schaffens lag hinter ihm,
als er während einiger flüchtiger Stunden das
Meer schauen durfte. Er war ein Dichter, und
heiße Tränen würgten ihn, weil er so alt ge-
worden war, bevor ihm dieser Anblick ward;
bevor sein jahrelanges Sehnen sich verwirk-
lichte; bevor er das Meer sah, das Meer, das
seinem Künstlerauge so viel gewährte, zu jeder
Stunde, in jedem Licht, friedvoll und sturm-
bewegt; das Meer, neben dessen Erhabenheit
alle Dinge, die Adalbert Stifter bislang geschaut,
zur Kleinlichkeit hinabsanken. In jener Stunde
erkannte der alternde Dichter, daß er kurz-
sichtig geworden war in der sanften Dämme-
rung seines Böhmerwaldes, beim Öllämpchen
der Linzer Amtsstube; daß ihm, dem selbst
das zarteste Geäder auf dem Flügel eines Käfer-
chens nicht entging, der Blick in die Ferne
versagt war und versagt blieb. Vergleichen
wir den Linzer Schulrat mit dem Staatsschreiber
von Zürich, der von sich selbst rühmte, daß er
in seinem Lande schreibe und doch aus dem-
selben hinaus, so finden wir eine Fülle von
Berührungspunkten und doch einen tiefen Unter-
schied des Wesens. Beide, Adalbert Stifter
und Gottfried Keller, sind Söhne abgeschiedener
deutscher Gaue; beide, früh vaterlos, von Frauen
erzogen, schwanken lange, welcher Weg ins
Heiligtum der Kunst einzuschlagen sei; der
Pinsel des Malers lockt sie, ehe sie zur Feder
greifen; der beste Teil ihrer jungen Jahre ver-
geht ihnen, ohne daß sich ein bürgerlicher
Beruf öffnen will, und nur der Ausnahmestellung,
die ihnen die Mitbürger willig einräumen, haben
sie es zu danken, wenn ihr Lebensschifflein
schließlich doch noch in einen gesicherten

In dem reizenden Motiv des Kindes, das
ahnungslos im Sande spielt, klingt die seelische
Erregung leicht und harmlos aus, und wird
der Betrachter zur Realität zurückgeleitet.

Die Darstellung ist in allem Äußeren, Bild-
mäßigen sehr ruhig. Überall finden wir große
Flächen und gerade Linien. Um die strenge
Symmetrie und den Ausgleich der Massen
durchzuführen, ist der Gruppe der Nieder-
gedrückten der starke Lichtakzent in dem Tor-
bogen beigegeben. Die Gruppen selbst sind
linear und durch die Lichtverteilung eng zu-
sammengebunden. Nie aber ist alle Kunst
mehr in den Dienst einer ganz einzigen seeli-
schen Wirkung gestellt.

Hafen einläuft. Vor allem aber dies: ihre Kunst
wurzelte tief im Boden ihrer Heimat, dem
mythischen Riesen gleich sogen sie aus dem
Heimatboden immer wieder neue Kraft. Aber
Gottfried Kellers Blick blieb nicht an der
Schweizer Erde haften, er schweifte weit weg
über Seldwyla und die Nachbarkantönli hinüber
in alle Lande, wo Menschen wohnen; tief
bohrte sich sein Auge in die Augen und Herzen
der Menschen, und indem es widerstrahlte,
was es dort gesehen, wurde Gottfried Keller
ein Seher. Nach einem Wort Goethes blieb
auch für Keller der Mensch Zweck und Endziel
aller Betrachtung. Anders Stifter. Scheu senkte
sich sein Blick zur Erde, zärtlich haftete er an
dem Moos und Gestein, dem Getier und den
Blumen des Waldes. Schlug er aber das Auge
auf, so spähte es verklärt nach den rauschenden
Wipfeln der Bäume, nach den Silberwölkchen,
die den Waldhimmel durchzogen. Ängstlich
ging er dem Ungekannten, dem Unerhörten,
ging er auch den Menschen mit ihren Schmerzen
und Lasten aus dem Weg. Den adleräugigen
Sehern war er sonach nicht wesensverwandt.
Er blieb nur ein Schauer, und so wurde er
einer der Meister des Beschaulichen. Der holde
Wahnsinn künstlerischer Vision ist ihm fremd
geblieben. Das wehe Ringen nach niemals
Geschautem, das verzückte Lauschen nach nie
Gehörtem, das irre Stammeln von Ungesagtem
hat er nur so weit kennen gelernt, als es von
jedem Schaffen unzertrennlicb ist.

Er schuf und schöpfte nur aus einem Quell,
der ihm und gerade ihm in unversiegbarer
Fülle floß, er münzte nur das Gold eines
Schatzes, mit dem er krösusgleich schalten
durfte. Was Adalbert Stifter zum Künstler
macht, das ist die unvergleichliche Innigkeit
seines Verhältnisses zur Natur, das ist sein
Naturgefühl von köstlicher Reinheit, seine Natur-
betrachtung, die, so echt, so treu, so warm,
nicht oft ihresgleichen findet. Dieser „helle,
klare Blick, mit dem er das alltägliche wunder-
volle Vergehen und Werden betrachtete“, ver-

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