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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 10.1905

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Nr. 9
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Valentiner, Wilhelm Reinhold: Eugène Fromentins "die alten Meister"
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Nr. 10
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Hackemann, August: Adalbert Stifter: ein Erinnerungsblatt zum 23. Oktober 1905, dem Tage der 100. Wiederkehr seines Geburtstages
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https://doi.org/10.11588/diglit.26235#0162

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ADALBERT STIFTER.

dient, wie Alfred Klaar (in dem Werk „Die
österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und
Bild“) fein ausgeführt, „ganz besondere Be-
wunderung in einer Zeit, da die Naturpoesie
der zeitgenössischen Romantik, weit entfernt,
sich mit hehrer Einfalt in das aufgeschlagene
Buch der Natur zu vertiefen, eine zweite phan-
tastisch-willkürliche Welt aus der vorhandenen
hervorzulocken suchte“. Weitab von dieser
wundersüchtigen Naturverklärung lag Stifters Art.
Die Natur war seine große Leidenschaft: „Wo
ich nicht lieben kann, da kann ich nicht leben“,
hat er einmal ausgerufen — und „da kann ich
nicht dichten“ hätte er hinzufügen können.
Ihm fehlte die große, alles umfassende Liebe
des Schöpfers; aber wo er liebte, dort wuchs
er zum Schöpfer. In den Kämpfen des Tages,
im Widerstreit der Meinungen, angesichts der
Zuckungen der Leidenschaft fühlte Stifter nur
Verwirrung, Angst, Beklemmung, Empörung.
Er konnte nicht verzeihen, weil er nicht be-
greifen konnte. In der Natur, im Leblosen,
Vollendeten, also in zweiter Reihe auch in der
Geschichte, fand er allein jene Ruhe, jenen
Frieden, dessen er benötigte und den er sich
schuf, soweit er ihn nicht finden konnte. Blind
geht er an allen Störungen des Naturfriedens
vorüber, bis er sich in späteren Jahren, gereizt
durch manchen Vorwurf, den ihm diese vor-
gebliche Blindheit eintrug, eine Theorie von
absonderlicher Willkür zurechtlegte: das Wehen
der Luft, das Rieseln des Wassers, das Wachsen
des Getreides, das Glänzen der Sterne sei groß,
alles aber, was nur das Ergebnis einseitiger,
vereinzelt wirkender Ursachen sei, Blitz, Sturm,
Brandung, Erdbeben, das sei klein. Es wird
also im vorhinein die Ruhe, die friedliche Ent-
wicklung als Regel, die Unterbrechung dieses
„beglückten Daseins in und mit der Natur“ als
Störung betrachtet.

So vermeidet Stifter denn auch nach Kräften
alles, was der Fiktion von der Welt, die „voll-
kommen ist überall, wo der Mensch nicht hin-
reicht mit seiner Qual“, zuwiderläuft. Aber
noch mehr: er vermeidet auch die Trübungen,
wie sie der Wechsel der Jahreszeiten mit sich
bringt; er geht mit einer freilich großartigen Aus-
nahme selbst dem Winter aus dem Wege; er zieht
die leblose Natur, die Pflanzenwelt, weitaus der
Tierwelt vor, da er in den Tieren ein die Mordgier
der Menschen aufreizendes, also störendes Ele-
ment erblickt, und er verwendet nicht durch-
weg, aber doch auch in seinen stärksten Stücken,
die Menschen als Staffage, als das Ergebnis des
Bodens, dem sie entstammen, als Spalier, um
das er die üppigen Ranken seines Natur-
empfindens schlingt. An tieferen menschlichen
Fragen geht er fast überall vorüber, sexuelle
Probleme hat er nur zweimal aufgeworfen.
Im allgemeinen ist es die Familie mit ihren
sanfteren Erregungen, die ihn künstlerisch

anzieht. Geht man Stifters Erzählungen durch,
so findet man fast durchweg Elternliebe, Kindes-
liebe, das Verhältnis des Vaters zu den Töchtern,
das Familienleben in seinen heiteren und ge-
mütlichen Seiten, eine süße Leidenschaft der
Seelen zwischen Jüngling und Jungfrau, die Ehe
mit ihren stillen Freuden, die gern mit der
Einsamkeit des Ehelosen im Gegensatz gebracht
wird. Auch Stifters Helden sind gleich jenen
Wilhelm Raabes so etwas wie „beurlaubt“, die
Störungen desErwerbs- und Berufslebens machen
sich nur vereinzelt und sehr gemildert geltend;
gleich den Romantikern hat Stifter gern mit
jungen Leuten in gesicherten Verhältnissen zu
tun. Flüchtet er sich in die Ewigkeit der Natur,
um die rasche Vergänglichkeit des Menschen
zu vergessen, so zeigt er auch darin, daß er
seine Helden bis herab zu den Nebenfiguren
gern ein fabelhaftes Alter erreichen läßt, wie
sehr ihn der Gedanke an Tod und Vergehen
abstößt.

Man muß diese weltscheue Kunst in die
allerengste Beziehung zur Person des Künstlers
bringen. Dem großen Meister seines Lebens
gleich, verschloß sich Stifter ohne Haß vor der
Welt, aber an Stelle des Hasses trat die Furcht,
und so wurde er in seiner Weltflucht nicht selig.
Mimosenhaft erschauerte seine Seele bei jedem
Hauch von außen; hundert Fühler und Taster,
immer bereit zurückzuschnellen, suchten schüch-
tern Anschluß an die Welt da draußen, um sich,
kaum daß sie ihn gefunden hatten, blutend zurück-
zuziehen. Ein Nebeltag hüllte, wie die Natur
da draußen, auch sein Gemüt in eintöniges Grau;
Krankheit und Tod eines Hündchens legte sich
ihm für Monate bleischwer auf Kopf und Herz,
Gebrechen des eigenen Leibes nahmen sein
ganzes Gedankenleben in Anspruch. Wie dieses
überfeine Gefühlsleben zugleich die Größe seiner
Kunst und die Schranken, die seinem Können
gesetzt waren, in sich schloß, so mußte seine
weiche und weichliche Psyche im Lebenskampf
zermürbt werden. Es kam so weit, daß eine
Beamtenstellung, die manchem andern von Stifters
Neigungen einen erwünschten Wirkungskreis ge-
gönnt hätte, dem weichseeligen Dichter das
Leben wie das Schaffen verleidete und daß seine
Schultern auch dann noch die Wundmale ihres
Druckes aufwiesen, als sie der Last längst wieder
ledig waren.

Fragen wir uns nun, wie eine so eigenblütige
Erscheinung wie Adalbert Stifter werden und
wachsen konnte, so mögen wir uns aus der
Geschichte seines Lebensgangs einigermaßen die
Antwort holen. Zu Beginn des vorigen Jahr-
hunderts, am 23. Oktober 1805, wurde Stifter in
dem Städtchen Oberplan im Böhmerwalde ge-
boren. Der Vater, ein hart arbeitender Weber-
meister und Flachshändler, wurde dem Knaben
früh entrissen, und die Mutter, Tochter eines
Metzgers, gab dem kleinen Adalbert und seinen

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