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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 10.1905

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Nr. 9
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Fritz, Alfons: Das deutsche Theater im 19. Jahrhundert: eine kulturgeschichtliche Darstellung von Max Martersteig
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Das deutsche theater im

19. JAHRHUNDERT.

EINE KULTURGESCHICHTLICHE DAR-
STELLUNG VON MAX MARTERSTEIG.*

Die Theatergeschichte ist ein Forschungsgebiet, das
in den letzten Jahren die Tätigkeit vieler Gelehrten und
das lebhafte Interesse der Leute vom Fach wie der
theaterfreundlichen Laienwelt auf sich gezogen hat. Zwar
lassen sich schon im 18. Jahrhundert theatergeschichtliche
Arbeiten nachweisen, unter denen Ch. H. Schmids
„Chronologie des deutschen Theaters“ (1775) den ersten
Rang einnimmt. Bekannter ist von den älteren Werken
jedenlalls Eduard Devrients „Geschichte der deutschen
Schauspielkunst“, deren Neudruck uns der literarisch
erfolgreich tätige Dr. Hans Devrient-Weimar für dieses
Jahr versprochen hat. Aber selbst dieses interessant
geschriebene Werk ließ den Mangel vorhergehender sorg-
fältiger Einzeluntersuchungen hervortreten und zeigte,
wie notwendig für eine einwandfreie Gesamtdarstellung
der deutschen Theatergeschichte die Beschaffung und
gewissenhafte Bearbeitung alles einschlägigen Quellen-
materials sei. Vergebens versuchte nun der vielseitige
Geheimrat Josef Kürschner für sein „Jahrbuch für das
deutsche Theater“ (1879/80) Interesse zu erwecken; auch
die von F. Arnold Mayer m Wien herausgegebene
„Deutsche Thalia“ (I. Bd. 1902), ein in vielfacher Hin-
sicht bedeutsames Unternehmen, vermochte als Zentral-
organ für theatergeschichtliche Forschungen nicht durch-
zudringen, aber hauptsächlich wohl aus dem Grunde,
weil sich beinahe gleichzeitig in Berlin auf gesicherterer
Grundlage die „Gesellschaft für Theatergeschichte“ ge-
bildet hatte, die, aus Männern der Wissenschaft (wie
Geiger-Berlin, Litzmann-Bonn, von Weilen-Wien, Wit-
kowski-Leipzig) und Theaterfachleuten (wie Possart-
München, Grube-Berlin, Schlenther-Wien) bestehend,
regelmäßige Veröffentlichungen aus dem Gebiete der
Theatergeschichte sich zum Ziele setzte. Bereits jetzt
liegt eine hübsche Zahl von Bänden vor, als letzter das
von jetzt an jährlich erscheinende „Archiv für Theater-
geschichte“, zur Aufnahme kleinerer Aufsätze bestimmt
und von Hans Devrient redigiert.

Unter diesen Umständen, wo die notwendigen Vor-
arbeiten für eine zusammenfassende Darstellung zwar
eifrig betrieben werden, aber noch weit vor dem Abschluß
sind, mag eine allgemeine Geschichte des deutschen
Theaters verfrüht und gefahrvoll erscheinen. Und doch
haben zwei Männer diesen Versuch gewagt, beide ungleich
beurteilt in ihrem bisherigen Schaffen, beide ungleich
auch in diesem ihrem neuen Unternehmen: Otto Weddigen
und Max Martersteig. Der erste löst in seiner „Geschichte
der Theater Deutschlands“, einem im Erscheinen be-
griffener. Lieferungswerk, die Bühnengeschichte in anein-
andergereihte Geschichten der einzelnen Bühnen auf,
und da er sich selbst nicht in die lokalen Forschungen
einlassen kann, so ist er auf die guten oder schlechten
Dienste bescheidener Lokalforscher angewiesen, welche
die Untersuchungen anstellen, aber auf eine Namens-
nennung verzichten, was seinem Werke notwendig einen
mindestens ungleichen textlichen Wert verleiht und es
bedauerlich erscheinen läßt, daß so viele schöne Jllu-
strationen, wie sie der rührige Verlag von Ernst Frensdorff
der ersten Lieferung beigefügt hat, sich nicht mit einem
gediegeneren Texte vereinigen.

Da steht doch Max Martersteig mit seinem großzügig
angelegten Werke „Das deutsche Theater im 19. Jahr-
hundert“ auf einem ganz andern Niveau! Allerdings
kann auch seine Theatergeschichte, die zur festeren
Fundamentierung des Gebäudes weit über den im Titel
angegebenen Zeitraum zurückreicht, keineswegs als ein
irgendwo und irgendwie abschließendes Geschichtswerk
betrachtet werden. Die Gründe sind oben mitgeteilt. Ja,

* Leipzig 1904, Druck und Verlag von ßreitkopf & Härtel. XVI und
735 S. 8°. 15 Mk.

auch die vorhandene Literatur ist trotz des reichen
Literaturnachweises (S. 699—704) nicht erschöpfend heran-
gezogen, besonders die aus dem deutschen Westen und
für den Westen. Aber auf eine vollständige Verwertung
aller wissenschaftlichen Untersuchungen scheint Marter-
steig es auch nicht abgesehen zu haben. Ihm kommt es
in erster Linie darauf an, den Kulturboden bloßzulegen,
aus dem das deutsche Theater entsprossen ist oder auf
den man es künstlich gepflanzt hat. Wie man eine jede
Kunst als die feinste Blüte jeweiliger Volkskultur zu
betrachten sich gewöhnt hat, so betrachtet auch Marter-
steig das Theater nach den Bedingungen der kultur-
geschichtlichen Entwicklung des deutschen Volkes: „Die
künstlerischen Entwicklungen sagt er im Vorwort,
„waren als Ergebnisse der jeweiligen geistigen Kultur,
aber vor allem auch der politischen, wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Zustände zu erweisen.“ Daher schiebt
er den vier Büchern, in die das Ganze zerfällt (das
Theater der klassischen Literaturepoche, Theaterkultur
der Romantik, das Theater von 1830 bis 18/0, das Theater
der Neuzeit: 1870 bis 1900), außer einer die Methode
seiner Darstellung historisch begründenden Einleitung
(Soziologische Dramaturgie) besondere kulturhistorische
Kapitel ein, z. B. Deutsches Leben nach den Befreiungs-
kriegen, Geistes- und Gesellschaftsleben von 1830 bis
1870, Zeitgeist und Gesellschaft im neuen Reich. Mit
Recht verwirft er eine Betrachtungsweise, die vielen
Theaterhistorikern — aber nicht allen, wie Martersteig
uns glauben machen will — eigen ist, nämlich das Theater
nur von der rein literarischen Seite oder die Wirksamkeit
des Künstlerpersonals an sich zu beurteilen, dagegen das
Publikum ganz außer acht zu lassen oder als den für
jede gute Kunst in allen seinen Ständen gleich empfäng-
lichen Teil anzusehen. Wählen wir zur Erläuterung mit
Martersteig das Beispiel Hamburgs. Vor hundertund-
zwanzig Jahren mußte man hier „Minna von Barnhelm“
eine Seiltänzerproduktion folgen lassen, 1790 muß
Schroeder Goethes „Clavigo“ seinem Publikum durch ein
der Aufführung folgendes Ballett schmackhaft machen,
in dem ein dicker Herr mit zwei Köpfen und vier Armen
tanzte, und im Jahre 1890 wurde hinter Beethovens
„Fidelio“ die „Puppenfee“ gegeben. Die Übereinstimmung
gleicher Maßnahmen unter den Augen Lessings, unter
der Herrschaft Schroeders oder unter der Pollinis sollte
doch zu denken geben. Gleichwohl schiebt Uhde, der
Geschichtschreiber der Hamburger Bühne, alle Schuld
den Theaterleitern zu; nach ihm hätte Hamburg fast aus-
nahmslos schlechte Theaterleiter gehabt. „Wenn Uhde
für das hemmende Element des Volksgeistes blind war
und ihm kein Wörtchen der Verurteilung findet, so wäre
das für den einzelnen Fall natürlich gleichgültig, — nur
daß die Art solcher ursachlicher Auffassung des sozialen
Faktors in der Theatergeschichte leider bis heute fast die
einzig (?) geübte geblieben ist. Immer wird von vorn-
herein das Theater ins Unrecht gesetzt; das Publikum
ist stets, wie bei Uhde, der Vertreter des künstlerischen
Sinnes, des guten Geschmacks. Diese Geschicht-
schreibung macht ohne weiteres die Empfindung des
Astheten zur öffentlichen Meinung und hält diese verletzt
und in ihrem Anrecht verkürzt, wenn ihr von will-
fährigeren Kunstverwaltern, als es Schroeder war, endlich
gegeben wird, was sie doch will.“

Unzweifelhaft hat Martersteig mit dieser Rüge vielen
Theaterhistorikern gegenüber recht. Er könnte sie aber
auch unserer heutigen Theaterkritik geben, die selten die
Hemmnisse berücksichtigt, die der Theaterleitung durch
den nicht immer von gutem Kunstverständnis geleiteten
Geschmack des Publikums entstehen. Daß man den
wirtschaftlichen Faktor mit in Rechnung ziehen muß, an
den leider das Theaterwesen wie jede Kunstausübung
gebunden ist, wird von manchem Beurteiler ebenso über-
sehen, wie die Lebensbedingungen eines Theaters über-
haupt weiten Kreisen noch nicht klar geworden sind.
Wie vieler Bankrotte hat es allerwärts bedurft, ehe die
städtischen Verwaltungen sich zu einer angemessenen
Subventionierung ihrerTheater verstanden; aber obgleich es

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