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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 10.1905

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Nr.12
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Kisa, Anton Carel: Das Nackte in der Kunst
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Schäfer, Wilhelm: Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters
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https://doi.org/10.11588/diglit.26235#0275

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DAS NACKTE IN DER KUNST.

zehnte und mehrere Ideen zurückgeblieben.
Sie sind nicht weiter als Jene, welche die
Kunst noch nach Darstellungsgebieten klassi-
fizieren. Sie halten das Nackte für die höchste
Kunst, mit demselben Rechte, mit welchem
Andere die Historienmalerei für die höchste
Kunst erklären, oder manche Architekten die
Baukunst für die Führerin unter ihren Schwestern
halten. Dabei passiert es ihnen, wie allen
Prinzipienreitern, oft gröblich mißbraucht zu
werden. Wie früher schlechte Poeten und
Maler vor der Kritik besser geschützt zu sein

Denkwürdigkeiten und erinne-

RUNGEN EINES ARBEITERS.

Der Arbeiter Karl Fischer hat das Glück
gehabt, durch den sozialen Theologen Paul Göhre
als Schriftsteller entdeckt und bei Eugen Diede-
richs in Leipzig in zwei Bänden herausgegeben
zu werden. Nun ist Paul Göhre, der ehemals drei
Monate Fabrikarbeiter wurde, um ein Buch
darüber zu schreiben, gewiß befähigt, all das
Interessante zu empfinden, was für ,,uns Ge-
bildete“ darin liegt, einen Vertreter des „vierten
Standes“ so ungeschminkt von seinen Erleb-
nissen, von seinen Hoffnungen und auch An-
sichten sprechen zu hören. Er hat sich darüber
im Vorwort zum ersten Band eingehend ge-
äußert. Aber obwohl er auch über den Stil
und zwar mit bezeichnenden Worten spricht,
das Soziale lag ihm doch zu sehr am Herzen
und danach das Kulturgeschichtliche, als daß er
den künstlerischen Wert dieser Aufzeichnungen
genügend hätte schätzen können.

Man kann wohl sagen: der erste Band hat
Sensation gemacht, so viel, daß auch der zweite
Band erscheinen konnte. Nun aber der vorliegt,
ist es stiller um das eigentümliche Buch ge-
worden. Das war zu erwarten, aber es ist
schade und zwar schade um unser Volk, das
dadurch um einen Dichter kommt, den einen
großen zu nennen ich mich nicht scheue. Je
länger ich in den Büchern lese, und es ist sehr
oft in meinen karg bemessenen freien Stunden
daß ich danach greife, desto mehr drängt sich mir
ein Vergleich auf, durch den ich — wenigstens
vor mir selbst — das Buch in seine rechte Be-
deutung rücke: es ist wahrhaftig der Simplizissi-
mus unserer Zeit. Mancher, der sich besonders
schöner Episoden aus diesem deutschesten aller
Romane erinnert, mag denken, was hat mit
diesen sprühenden Dingen der langatmig hin-
fließende Gang dieses Arbeiterlebens zu tun?
Und ein anderer wird meinen, wenn auch die
kräftige Luthersprache in dem Buch etwas an
den Simplizissimus erinnere, so sei dies doch
nur äußerlich und fast zufällig, indem dieser
Arbeiter ein guter Bibelleser sei. Auf das erste
wäre zu erwidern, daß aus diesen beiden

glaubten, wenn sie einen hochpatriotischen oder
dynastischen Stoff wählten, der dem Tadler
unter Umständen den Vorwurf mangelnden
Vaterlandsgefühles oder mangelnder Ehrfurcht
vor dem Herrscherhause zuziehen konnte, so
nützen mitunter mittelmäßige Künstler die gött-
liche Nacktheit als Schutzwehr und zeihen den
Tadler bornierter Nuditätenschnüffelei. So
kommt es, daß in manchen Fällen Mut dazu
gehört, gegen eine schlechte Arbeit aufzutreten,
deren Blößen sich gerade unter der Nacktheit
verbergen zu können glauben.

Bänden eine Fülle von kostbaren Episoden her-
auszunehmen und nach moderner Art ein
Dutzend handlicher Bändchen damit zu füllen
sei: man blättere nur einmal die Jugend-
geschichte durch. Oder ist so etwas wie der
Tod des Erdarbeiters in Vohwinkel oder sein
hehlerischer Abschied aus der Eifel nicht mit
unheimlicher Sicherheit erzählt?

Das aber bringt schon auf das zweite:
zwar ist die Sprache dieses Mannes luthersch,
aber den konnten wir doch alle lesen, warum
war so selten etwas von seiner Kraft in unserer
Sprache zu spüren? Und diese Sprache ist es
nicht einmal, was den Vergleich mit dem großen
Roman aus Deutschlands wildester Zeit heraus-
fordert, sondern die schlaftrunkene Sicherheit
und Bildhaftigkeit seiner Anschauungen: Niemals
ein Wort zu viel oder zu wenig und immer steht
alles mit der unbegreiflichsten Deutlichkeit vor
Augen, wir sehen jeden Mann, ja jede Land-
schaft, die er beschreibt. Und dann die un-
erhörte Weite seines Gedächtnisses. Und dies
ist es, worin seine Begabung am meisten eine
geniale genannt werden muß. Sehen wir doch
einmal durch, was wir an „Lebensbeschrei-
bungen“ haben, von den modernen meist
kümmerlichen Jugenderinnerungen und Schul-
geschichten abgesehen: einzig allein Goethe,
an dessen „Dichtung und Wahrheit“ in der
Treue trotz seiner „Dichtung“ sich diese Denk-
würdigkeiten messen können. Sonst überall
einzelne tiefeingeprägte Episoden, in denen
sich die Erinnerungen ganzer Jahre zusammen-
drängen. Bei diesem Mann scheint alles
gleicherweise klar vor Augen zu stehen. Wenn
man dies — rein dichterisch — einen Mangel
nennen will, und man muß es, weil Dichten
Verdichten, Zusammenhänge und Rhythmen
des Lebens finden heißt: so ist es unleugbar
bei Karl Fischer ein genialer Mangel, den
anderseits die Einseitigkeit seiner Natur trotz
aller geistigen und seelischen Gebundenheit über-
reich wettmacht durch die Fülle ihrer Bilder.
Es muß auffallen, wie man immer wieder bei
diesem Buch ins Lesen kommt und daß einem
jedesmal ein Gefühl bleibt, wie wenn das
große gelassene Auf- und Niederwogen des

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