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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 10.1905

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Nr. 11
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Kühl, Gustav: Bruckner
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Kühl, Gustav: Unsere Musikbeilage
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https://doi.org/10.11588/diglit.26235#0233

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RUCKNER

Von Dr. GUSTAV KÜHL.

Schließlich gibt uns alle Kunst Natur: nur
intensivste, die Natur der Natur. Und das ists,
warum wir oft so langsam sind ihr zu lauschen
und zu glauben.

Denn die Natur ist dem Tagesmenschen
fremd. Er nimmt, was er für sein augenblicklich
Handeln braucht, hier und da, und ist zufrieden,
wenn ihm dasLebendigeringsum inseinen großen
Zusammenhängen nicht die kleinen Kreise stört;
und ebenso gleichgültig und ablehnend ist er
gegen die Lebensmächte im eigenen Innern.
Die Stunden, wo wir unsere Seele der Welt
überlassen, sei es einer Landschaft, einem Feste,
einem geliebten Menschen, sind selten; noch
seltener jene, wo wir sie dem Brodeln und
Rinnen der Naturkräfte in sich selber lauschen
lassen. Nur in schlaflosen Nächten, oder wenn
wir uns bei einer großen Sünde ertappen oder
auch bei einer kleinen unerwarteten Tugend,
stocken wir plötzlich wie vor einem Abgrund
und fragen erstaunt: also das bin ich?

Dies ist der Grund — die Gegnerschaft von
hundert Hanslicks würde nicht so viel aus-
machen — weshalb Anton Bruckners gewaltiges
Lebenswerk erst so wenigen Menschen ein
unveräußerlicher Seelenbesitz ist. Weniger
nämlich, ein Künstler, den man „schätzt“, den
man „gelegentlich sehr gern hört“, kann
Bruckner nicht sein. Wer nicht für ihn ist, muß
ihn verachten. Er ist ein Prophet. Undwerunter
euch, meine Brüder, auf der Suche ist (immer
noch auf der Suche, so oft er schon fand) nach
dem Mund und Herzen des all-einen Lebens,
das in uns pulst, wie es in den Wellen der
Milchstraße zittert, der horche auf Seinen Gesang.

Mit dem ersten Ton, noch ehe sich die
Melodie entfaltet, sind wir entrückt. Oder nein,
nicht wir; vielmehr das Diesseitige, Kleine,
Alberne, Vergängliche rückt von uns fort, und wir
sind allein mit uns und den großen Gewalten
des Gottweltlebens. Wir geben uns hin — und
sie umfangen und wiegen uns; wir spähen und
horchen — und sie türmen sich um uns her
wie riesige Tempel mit Pfeilern, Toren und
brückenden Kuppeln; wir lassen uns von
schwebenden Traumschritten weitertragen —
und vor uns öffnen sich schattige Kapellen und
farbenglühende Hallen ins Unermeßliche, in die
wir mit Staunen hineinblicken, nicht etwa
gelockt wie von sinnlichen Augen und Armen,
nein, auch das Fernste ist unser eigen: sondern
aller Sehnsucht überhoben, denn jeder Augen-
blick bringt Erfüllung. Und dann, wie mag es
gekommen sein, auf einmal gefällt sich unsere
Seele, wie eine Taube mit ihren Gespielen um
die hohen Kapitäle zu flattern, an Friesen und
Blumengehängen entlang entzückende Reigen-
spiele aufzuführen, heiter den leichtesten, wohl-
lautendsten und zugleich unerhörtesten Biegungen

hingegeben. Plötzlich indessen verstummt dies
Spiel: wir blicken hinab in den riesigen Bau,
an dessen Flanke wir hängen; und während
seine Pfeiler sich von neuem gründen und türmen
und seine Bogen sich krachend begegnen,
stürzen wir mitten in ihn hinein, verschwinden,
Schwinden in seinem Raume, und nichts ist
mehr als ein Eines, sich ewig Gleiches, das
monumentale Sein.

So ist mir oft bei Bruckners großen sym-
phonischen Sätzen zu Sinn: Ich habe den
Eindruck einer Monumentalität, die über alles
irdisch Erfaßbare hinausgeht. Einer Monumen-
talität nun aber, die nicht befremdet und
erschrickt (wie etwa Beethoven und Michel-
angelo erschrecken und befremden können),
sondern die mich selbst in ihren Formen har-
monisch mit enthält. Pfeiler, in denen mein
Blut emporsteigt wie der Saft in den Bäumen;
Hallen, die mein umherstreifender Blick mit
dem Stoff meines Geistes erfüllt; nichts, ich
sagte es schon, das zu steil und zu hoch wäre
für meine Fliegelust. Das Gefühl sichern Ruhens
verläßt uns nie bei Bruckner, trotz aller atem-
raubenden Überraschungen, die er bringen kann.
Es ist Religion in ihm. Man könnte ihn viel-
leicht den letzten Romantiker nennen, bei dem
das, was Beethoven zuerst erahnte, was Schubert,
was Mendelssohn, Schumann und Brahms
träumten und sehnten, was Wagner mit der
Romantik Schopenhauerscher Philosophie durch-
setzte und mystisch verkleidete, nun schließlich
gefunden und gewonnen ist. Seine Musik ist
endlich wunschlos. Die Liebesfülle seiner
Adagios schwelgt in einer Umarmung von
Glück; seine Scherzi, schwerer und derber als
die Beethovens, Bauerntänze hat man sie ge-
nannt, rammen ihren Rhythmus in den Körper
der Erde, ohne durch Gewitter und Sturm
unterbrochen zu werden; und seine trium-
phierenden Marschthemen, seine Choräle und
Fanfaren scharen alle Heere und Völker, alle
Lawinen und Meereswogen, alle Planeten und —
alle Blutkügelchen unserer Adern in ihren Zug.

Seit Johann Sebastian Bach hat keine Musik
ein so gutes Gewissen gehabt wie die des alten
Bruckner; im neunzehnten Jahrhundert wenig-
stens steht sie völlig einsam da, und nur drüben
in der neuen Welt hat es einen Dichter gegeben,
der mit gleicher Unbeirrtheit und rhythmischer
Macht Welt und Mensch in Eines band: Walt
Whitman.

Bruckner hat seine Grenzen. Er ist zu sehr
selber von seinen musikalischen Funden hin-
genommen, um ein letzter künstlerischer Voll-
ender heißen zu können. So thematisch be-
ziehungsvoll alles bei ihm ist, dank eben dem
übermäßigen Reichtum an Motiven, die ihm aus
allen Ecken zufliegen, so war er doch nicht
der Mann, um mit so schmerzlicher Energie
wie Beethoven die Partikelchen ineinanderzu-
schweißen, oder mit solcher Selbstverständlich-
keit wie Mozart oder Wagner vom einen zum

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