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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 10.1905

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Nr. 8
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Schäfer, Wilhelm: Der Fall Wagner
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https://doi.org/10.11588/diglit.26235#0096

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DER FALL WAGNER.

Ich kenne ihn seit dem September 1893, als
mir ein gemeinsamer Freund in seine „Weihe-
geschenke“* eine liebe Widmung schrieb. Und
ich weiß noch wohl, wie ich erstaunte, als
das schmale Bändchen des württembergischen
Bauers fast nur Verse im klassischen Gewand,
zunächst gar nichts Bäurisches, enthielt. Dann
freilich:

Spatherbst.

Leer ist längst schon die Flur, doch steht gleich einer

verlorenen

Feldwacht drüben noch Kohl auf schwärzlich scholligem

Krautland,

hänfne Gezelte dabei auf frisch erst gemäheten Wiesen. —

Liess sie dahinten das Heer, als ab es gebrochen das Lager?

Rabengekrächze ertönt herab von den Pappeln, und frostger

Nebel des Herbstes erfüllt weit aus sich breitend den

Talgrund.

Und so ländliches Bild auf Bild, trotz der
unbäurischen Form, freilich diese selbst ge-
handhabt von einem reichgebildeten Geist.
Ein wunderliches Gefühl, mit diesem Alten —
dessen faltenreiches Antlitz dem Buch als Bild
beigegeben ist — durch seine Natur zu folgen;
und ihn, der so ganz voll ist von ihren Wundern,
dessen Anschauungen alle aus ihr kommen, in
einer Sprache sagen zu hören, die aus Büchern
stammt. Gar kein bäuerlicher Hochmut, auch
kein Mißmut, nur ein großer Respekt vor allem,
was mit Bildung zu tun hat, dabei ein ungrüb-
lerischer, aber dem Mystischen furchtlos nach-
gehender Tiefsinn, ein zartes ganz unbäuerliches
Verhältnis zum blühenden Unkraut und zum
schillernden Ungeziefer, ein Pantheismus, zwar

* Verlag Greiner & Pfeiffer, Stuttgart 1903.

bewußt aber stark wie ein Waldbach quellend,
und so ein Wundergefühl der Welt im Grunde
unberührt von Glück und Unglück: das sind
die Züge des Menschen. Und die Gabe des
Künstlers: eine Sprachbehandlung, die trotz ge-
legentlicher, aber nur seltener Schnitzer (mehr,
als selbst du es weißest) ebenso reich wie
zart ist — und eine Bildhaftigkeit, die ihn
Mörike ebenbürtig erweist. Denn außer den
klassischen gibt es auch deutsche Verse in dem
Band. Darunter solche:

Unheimlich an hört sich im Wald das Knarren
der Tannen, die, von andern überhangen,
hinauf zum grauen Abendhimmel starren.

So stört in Nächten oft, in kummerbangen,
der Schlafende den andern durch ein Schnarren
und seltsam Rufen, wirr im Traum begangen.

Vor allem die wunderbare „Totenfeier“, eine
Dichtung, die gleich dem „Raben“ von Poe
oder dem Pidder Lung von Liliencron in alle
Sprachen der Welt übersetzt zu werden ver-
diente, vor allem vom deutschen Volk gekannt
werden müßte.

Seit zwölf Jahren ist das Bändchen bei mir
zu Hause. Und oft, sehr oft in diesen Jahren,
wenn meine rasche widerspruchsvolle Tätigkeit
mir eine stille Stunde ließ, bis heute ist es in
meiner Hand gewesen. Oft habe ich dem
Alten, den ich nicht kenne, einen leisen innigen
Herzensgruß gesandt, wenn sein stilles Wort
mich sacht in den geheimnisvollen Grund des
Lebens geleitet hatte, ohne den es nicht lohnte,
eine Hand in Menschendingen zu bewegen.

Heinrich Bürkel. Dorf im Winter.
 
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