A. Bartholome. Aux Morts. Grabesengel.
Wenn je ein Geschlecht der Menschen in seiner
Kultur, in seinem Werk und Leben dem Todes-
gedanken nur geringe Zugeständnisse gemacht
hat, dann ist es das unsere. Über unserer Zeit
steht das Goethesche Wort vom Kämpfer und
vom Recht des Lebenden. Leben ist nicht
Leiden, Leben ist Wirken.
Ob nicht wirklich der Tod auch unter die
Förderungen des Lebens zu rechnen istP Und
vielleicht gerade unter die größten? Aber freilich
nur für den, der des Lebens habhaft geworden
ist, dem die Entdeckung des inneren Lebens
das Nichtsein des Todes verkündet hat. Und
ob ein Romane, auch wenn er so viel Seele
hat wie Bartholome, ganz die Eigenart dieses
Gedankens zu fassen vermag? Oder ist er nur
der Philosophia teutonica eigen, der Mystik, die
den Deutschen im Blute liegt, seiner Innerlich-
keit und Kindlichkeit, seiner grüblerischen, an
Geheimnissen und am Hineingeheimnissen sich
erfreuenden Natur? Ich denke hier an den
deutschesten der deutschen Künstler unserer
Zeit, an Hans Thoma.
Doch bevor ich von ihm rede, möchte ich im
Vorübergehn ein paar Denkmäler erwähnen, die
in eigenartiger Weise den Charakter zweier Völker
widerspiegeln. Diesmal ist es der Gedanke der
Auferstehung, den Bartholome dargestellt hat,
aber offenbar nicht die allgemeine Auferstehung
am jüngsten Tag, sondern die uralte Volksan-
schauung, daß die Seele nach kurzem Verweilen
aus dem Grabe sich erhebe, um den Weg in die
Heimat zu suchen. Nicht der Schrecken des Ge-
richts hat diese Tote aufgescheucht; es liegt zu
viel Fragendes, Vorsichtiges in der Bewegung,
der aus einer Art Heroon aufsteigenden geflügelten
Mädchengestalt; es ist kein Auffahren im Ent-
setzen, sondern ein vorsichtiges Sichhinaus-
tasten aus der Finsternis des Grabes in die
Weite und die Freiheit einer andern höheren
Welt. Es liegt in dieser eben aus dumpfem
Todestraum erwachten Gestalt, die mit der
Rechten unter der schweren Decke des Heroons
hinauslangt, etwas von dem Suchen der Seele
überhaupt, von der Sehnsucht nach dem Lande
der Freiheit, aus dem sie stammt, und von dem
ihr eine dunkle Erinnerung als leises Heimweh
nach Freiheit und Schönheit geblieben ist.
Wieviel näher steht unserm Empfinden
dies stille innerliche Werk eines Franzosen, als
die große Bronzegruppe mit der Himmelfahrt
einer Frauengestalt auf dem Familiengrabmal
Stefano Branca auf dem Campo santo zu Mailand.
Der Gedanke ist derselbe: die Auffahrt einer
Seele aus dem Grabe. Aber es ist eine große
Haupt- und Staatsaktion daraus geworden, ein
richtiger Theatercoup. Man vermißt nur in
etwa noch den Embarras der Kirche mit Wedeln
und Laternen und Kreuzen und großer Kirchen-
gala. Man meint, der Lärm müsse noch etwas
größer sein. Eine Frau mit selig verklärtem
Lächeln fährt zum Himmel auf. Eine weibliche
Gestalt schwebt mit gefaltet ausgestreckten
Händen über ihr, eine andere Figur, vielleicht
auch ein flügelloser Engel, hinter ihr, den etwas
erhobenen Arm der Frau leicht mit der Rechten
stützend. Von unten aber scheint ein fast nach
rückwärts fallender Mann sie zu halten. Rechts
liegt eine Figur am Boden, und von links stürzt
entsetzt ein Mann, vielleicht der Gatte, in
schnellstem Laufe herbei, nur ganz flüchtig be-
rührt der Fuß den Boden. Das muß offenbar ein
großes Malheur sein, das sich hier ereignet. Es
ist eben jemand in den Himmel „verunglückt“,
würde man im Stil dieses Grabmals sagen
müssen. Für den, der nicht hineinpaßt, könnte
es in der Tat ein ziemliches Unglück sein, und
A. Bartholome. Grabmal (Montmartre).
424
Wenn je ein Geschlecht der Menschen in seiner
Kultur, in seinem Werk und Leben dem Todes-
gedanken nur geringe Zugeständnisse gemacht
hat, dann ist es das unsere. Über unserer Zeit
steht das Goethesche Wort vom Kämpfer und
vom Recht des Lebenden. Leben ist nicht
Leiden, Leben ist Wirken.
Ob nicht wirklich der Tod auch unter die
Förderungen des Lebens zu rechnen istP Und
vielleicht gerade unter die größten? Aber freilich
nur für den, der des Lebens habhaft geworden
ist, dem die Entdeckung des inneren Lebens
das Nichtsein des Todes verkündet hat. Und
ob ein Romane, auch wenn er so viel Seele
hat wie Bartholome, ganz die Eigenart dieses
Gedankens zu fassen vermag? Oder ist er nur
der Philosophia teutonica eigen, der Mystik, die
den Deutschen im Blute liegt, seiner Innerlich-
keit und Kindlichkeit, seiner grüblerischen, an
Geheimnissen und am Hineingeheimnissen sich
erfreuenden Natur? Ich denke hier an den
deutschesten der deutschen Künstler unserer
Zeit, an Hans Thoma.
Doch bevor ich von ihm rede, möchte ich im
Vorübergehn ein paar Denkmäler erwähnen, die
in eigenartiger Weise den Charakter zweier Völker
widerspiegeln. Diesmal ist es der Gedanke der
Auferstehung, den Bartholome dargestellt hat,
aber offenbar nicht die allgemeine Auferstehung
am jüngsten Tag, sondern die uralte Volksan-
schauung, daß die Seele nach kurzem Verweilen
aus dem Grabe sich erhebe, um den Weg in die
Heimat zu suchen. Nicht der Schrecken des Ge-
richts hat diese Tote aufgescheucht; es liegt zu
viel Fragendes, Vorsichtiges in der Bewegung,
der aus einer Art Heroon aufsteigenden geflügelten
Mädchengestalt; es ist kein Auffahren im Ent-
setzen, sondern ein vorsichtiges Sichhinaus-
tasten aus der Finsternis des Grabes in die
Weite und die Freiheit einer andern höheren
Welt. Es liegt in dieser eben aus dumpfem
Todestraum erwachten Gestalt, die mit der
Rechten unter der schweren Decke des Heroons
hinauslangt, etwas von dem Suchen der Seele
überhaupt, von der Sehnsucht nach dem Lande
der Freiheit, aus dem sie stammt, und von dem
ihr eine dunkle Erinnerung als leises Heimweh
nach Freiheit und Schönheit geblieben ist.
Wieviel näher steht unserm Empfinden
dies stille innerliche Werk eines Franzosen, als
die große Bronzegruppe mit der Himmelfahrt
einer Frauengestalt auf dem Familiengrabmal
Stefano Branca auf dem Campo santo zu Mailand.
Der Gedanke ist derselbe: die Auffahrt einer
Seele aus dem Grabe. Aber es ist eine große
Haupt- und Staatsaktion daraus geworden, ein
richtiger Theatercoup. Man vermißt nur in
etwa noch den Embarras der Kirche mit Wedeln
und Laternen und Kreuzen und großer Kirchen-
gala. Man meint, der Lärm müsse noch etwas
größer sein. Eine Frau mit selig verklärtem
Lächeln fährt zum Himmel auf. Eine weibliche
Gestalt schwebt mit gefaltet ausgestreckten
Händen über ihr, eine andere Figur, vielleicht
auch ein flügelloser Engel, hinter ihr, den etwas
erhobenen Arm der Frau leicht mit der Rechten
stützend. Von unten aber scheint ein fast nach
rückwärts fallender Mann sie zu halten. Rechts
liegt eine Figur am Boden, und von links stürzt
entsetzt ein Mann, vielleicht der Gatte, in
schnellstem Laufe herbei, nur ganz flüchtig be-
rührt der Fuß den Boden. Das muß offenbar ein
großes Malheur sein, das sich hier ereignet. Es
ist eben jemand in den Himmel „verunglückt“,
würde man im Stil dieses Grabmals sagen
müssen. Für den, der nicht hineinpaßt, könnte
es in der Tat ein ziemliches Unglück sein, und
A. Bartholome. Grabmal (Montmartre).
424