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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 10.1905

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Nr.12
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Philippi, Fritz: Das Heidekreuz
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https://doi.org/10.11588/diglit.26235#0270

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£>AS HEIDEKREÜZ.

Da lehne ich am Heidekreuz und denke, ob
schon damals die Mauern des Armenhauses sich
hintüber neigten, als noch ein Dach darüber
war, und was Anna Barbara dort tat, wo jetzt
die Wildnis tut, was sie mag.

Sie sind ihr entgegengesprungen auf der
Schwelle, die fünf Kinder der Frau, deren
Namen jetzt niemand mehr weiß. Und sie
hat dann stundenlang ausgehalten, was der
Schultheiß, der zwei Zentner mit einem Arm
zur Schulter rückte, nicht aushielt.

Sie hielt es aus, weil sie anfaßte und half.
Dienstbotenarbeit, unansehnliche Geschäfte, sagt
die Hoffart, die zuletzt ein grinsender Toten-
schädel ist im Staub. Aufopferung! Gottesarbeit!
sagen die Osterglocken.

Es war aber nicht Ostern damals, und die
Heide lächelte nicht, sondern sie lag und hielt
tiefernst mit dunklen Augen dem stand, was
sein mußte, weil es die Gewalt hatte. Es war
die Zeit, da des Winters Schneewind herein-
bricht über alle Schranken: nieder! nieder!, und
wo ein Kämpfen anhebt im Hickehain ums
Leben, wo alles Aufrechte erprobt wird bis ins
Mark, und ob die Tannenmauer dem Schnee-
wind den Weg sperren darf nach dem Dorf.

Kommt zu solcher Zeit ein Mensch auf die
Heide, dann hetzt der Jäger das Wild.

Anna Barbara, du warst das Wild!

Sie sagen im Dorf: draußen vor der Schutz-
hecke* spielten sie damals um den Tod, schon
tagelang und immer heftiger. Wer denn? Das
wisse keiner. Aber etwas Fürchterliches vor
Augen und Ohren! Und kein Mensch dürfe einen
Schritt aus dem Dorf tun. Und ein Weibsbild
zweimal nicht.

Da stand Anna Barbara in der langen Stube
vor dem Schultheiß, dessen Haus jetzt nicht
mehr ,,bei seinem Namen und bei seinen
Leuten ist,“ Raabs Henner, der an dem Mäd-
chen vorbei ein Loch in die Wand guckte.
„’s woar aut!“** sagen die Alten im Dorf. ,,’s
woar aut!“ Zweimal sagen sies, und mehr kann
keiner sagen.

Das Wort, das sie damals sprach, hat sich
eingeschnitten mit Messern, wie Kerben im Holz,
die nicht mehr überwachsen.

„Schultheiß! Am jüngsten Tag fordere
ich von Euch das Leben der Frau und ihrer
Kinder!“

Darum, sagen sie, ist zuletzt der Raabs Henner
so schwer gestorben und hat in seiner letzten
Nacht immerfort mit der Hand gewischt und
gesagt: „Gih weg, Madche!“ — Denn es war
schon nach drei Tagen, und die Frau in der
Armenruh-Mühle lag im brüllenden Fieber und
die Kinder jammerten um Brot.

Und Raabs Henner hatte gesagt: ,,’s is naut
z’mache!“

* Tannenpflanzung zum Windschutz.

** = Etwas.

Mit welchem Blick da sich Anna Barbara
umgesehen hat in der langen Stube, mit welchem
Blick in der Runde der Männer!

Sie ging und war so groß gewachsen, daß
man meinte, die Tür reiche nicht aus. Und doch
war der Raabs Henner ein Zweistöckiger. —
So sagen die Alten im Dorf.

Schnaubend wie tausend Pferde fuhr es hin
über den Köpfen, das, was keine Zeit hatte und
vorwärts mußte durch alle Welt. Ein Heulen
und Pfeifen, ein Gellen und Brausen, dazwischen
ein meckernd Gelächter. Schneewirbel toste an
die klirrenden Scheiben.

Und alle in der Stube wußten, daß das
Mädchen zur Tür hinausgegangen war und nicht
wiederkäme.

Da sind zwei aufgestanden aus dem Kreis
der Männer und sind dem Mädchen nachgegangen
bis zur Schutzhecke. Es waren dieselben, die
dann mit den Glocken läuteten bis in die Nacht.

Sie haben mit dem Mädchen geschrieen;
denn sprechen konnte hier keiner. Die Tannen
bogen sich wie die Gerten, und war ein helles
Tönen von leibhaftiger Angst.

Und Anna Barbara hat dem einen geant-
wortet, dem Altvater von den Weißflitschs
im Dorf, die bekannt sind durch ihre Tüchtig-
keit.

„Bleib, du bist noch nötig! Nach mir fragt
niemand als die Armut.“

Das ist das letzte Wort, das sie im Dorf von
Anna Barbara wissen. — —

Wer heute am Ostermorgen unsere Heide
sieht, ihr kindlich frohes Staunen, mit offenem
Mund vor der Herrlichkeit des Unendlichen, der
kann es nicht fassen: hat es die Heide ver-
gessen, wie die Welt sich so verändern kann,
oder empfindet sie es nicht? Gerade wie ein
Kind nichts weiß vom Sterben?

Die Heide ist untergegangen im Meer und
ist ein Meeresboden geworden. Und darauf, im
Gewog und Gejaig* des Meeres, untergetaucht
mit allen Sinnen, wandelt der Mensch, der nur
im Licht atmet und nicht im Meer!

Sie sagen im Dorf, das Mädchen sei wirklich
bis zur Armenruh-Mühle gekommen. Wie? das
wisse keiner, würde es auch nicht glauben,
wenn nicht danach im Armenhaus der Korb
sich gefunden hätte, den Anna Barbara mitnahm.
Auch erzählte das älteste der Kinder, das allein
noch bei seiner Mutter war, und dann später
irgendwo bei den Menschen in der Fremde sich
verlor: als Altpärrners Annebärb kam, hätten
sie gegessen, und dann sei es draußen still ge-
worden.

Die Heide tauchte auf aus dem Meer, weiß
und langgedehnt; und der Himmel schaute durch
zerfetztes Gewölk.

Sie sagen im Dorf, es sei um der großen
Guttat willen gewesen, daß der Sturm schwieg.

* = Gejag. Man sagt hier: „Es jaigt!“

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