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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 10.1905

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Nr.12
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Schäfer, Wilhelm: Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters
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Schäfer, Wilhelm: Das Brudermichelstal
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https://doi.org/10.11588/diglit.26235#0276

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DENKWÜRDIGKEITEN UND ERINNERUNGEN EINES ARBEITERS

mäßig bewegten Meeres uns in alle Sinne ge-
drungen wäre. Nämlich: dieser Mann ist nichts
weniger als ein Photographenkasten, in seine
Vergangenheit gerichtet. So gleichmäßig treu
alles dazustehen scheint, längst ist alles Natur
geworden durch ein Temperament gesehen,
vielmehr Welt durch eine Seele erlebt (wie
neulich G. Franck die Kunst schöner defi-
nierte), und wenn dieser Seele auch die Flügel
großer Gedanken und die Krallen heftiger Leiden-
schaft fehlen, sie war immerdar lebendig, die
Dinge der Welt mit wachen Augen aufzunehmen
und zu bewahren; und daß sie trotz ihrer
Enge und Gebundenheit bis in den Grund be-
wegt sein konnte, dafür gibt es ein paar er-
schütternde Stellen in dem Buch. Und ge-
rade das, was man ihm vorwerfen möchte,
seine Kälte und anscheinende Gleichgültigkeit
gegen die „gärenden Gedanken“: das wird
dieses Buch als Kunstwerk in Jahrhunderte

hinüberretten. Wer aber deutlich spüren will,
aus welchem Holz der Kerl geschnitzt ist, der
lese seine Ankündigung ans deutsche Publikum,
seinen „Prolog“, der ist so, daß einem Hören
und Sehen vergeht vor der Phantasie und
Sprachkraft des Mannes.

Warum ich dieses so rasch hinschreibe,
was viel breiter und tiefer begründet werden
müßte? Weil ich möchte, daß statt aller mög-
lichen Romane erfindungsreicher und empfind-
samer Schriftsteller dieses Ruhmeswerk unserer
Volksart auf die deutschen Weihnachtstische
käme. So sehr, daß nach dem Fest der Ver-
leger eine neue Auflage machen müßte, damit
wir endlich aus den willkürlich, höchst willkür-
lich auseinandergerupften Bänden von Paul
Göhre das Dichtungswerk des Karl Fischer so
beieinander sähen, wie es sich gehört.

W. Schäfer.

AS BRUDERMICHELSTAL.

Eine Rheinsage erzählt von W. Schäfer.

In einem Tal bei Boppard, das heute diesen
Namen trägt, lebte einst ein Klausner namens
Michel, von dem nicht einer wußte, woher er
in den Wald gekommen war. Er hatte sich
aus dürrem Holz und Rasen an die Felsenwand
ein Haus gebaut, das nicht viel anders aussah
als eine Torburg für den Berg, und es gab mehr
als eine Sage, daß er den ganzen Berg zur
Wohnung hätte und vorne nur die Kammer
für die Kranken brauchte. Die kamen aus
dem ganzen Land zu ihm, und es gab keine
Krankheit, da er nicht Besserung erreichte.
Das meiste aber tat er nicht mit Kräutern,
sondern mit dem Wort; indem er sagte, daß
die Körperschäden zumeist in Seelennöten ihre
Wurzeln hätten. So gab es keinen, der von
ihm nicht fröhlicher zum Leben fortgegangen
wäre, als er zu ihm kam. Und weil das viele
Jahre dauerte, so daß die Kinder Eltern wurden,
die ihn mit seinem weißen Bart aus ihrer
Jugend kannten: fing eine Sage an zu gehen,
daß er nicht sterben könne. Doch wenn im
Winter der Schnee durch Wochen fiel und
eine Decke darauf fror durch blankes Glas, so
daß sie Mühe hatten in der Stadt, sich Wege

einzuschaufeln: da sprachen sie an manchem
warmen Feuer von dem Bruder Michel, wenn
er jetzt stürbe, wer ihn begrübe, und ob man
ihn nicht doch einmal im Frühjahr von Wölfen
aufgefressen fände. So geschah es nun am
letzten Januar, daß mitten in der Nacht in
Boppard alle Glocken an zu läuten fingen, so
daß wohl mancher aus dem Schlaf erwachend
nach Feuersbrünsten Umschau hielt. Doch
blieb die Nacht in ihrem Dunkel, nur daß sich
Haus für Haus sein Licht ansteckte und endlich
keine Seele mehr in Boppard am Schlafen war.
Und weil das Läuten blieb auf allen Türmen,
so lief man hier- und dorthin nachzusehen,
und bald war es der ganzen Stadt bekannt,
daß niemand an den Seilen zöge. Da fiel die
Furcht schwer in die Häuser; sie fingen an
die Kirchen zu erhellen und zogen hin; und
war in dieser Nacht ein Gottesdienst und Gebet
zu Boppard wie nie zuvor an einem Feiertag.
Und wie der Morgen kam, da stand am Tor
ein Reh, das alle kannten, weil es mit einem
lahmen Fuß dem Bruder Michel wie ein Haus-
tier diente. Da zogen sie in hellen Scharen
in den Wald hinauf und schaufelten sich einen
Weg, und fanden ihn gestorben in der Nacht
und mußten nun erkennen, was für ein Toten-
amt sie ihm gehalten hatten.
 
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