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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 27.1917

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Heft 4
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Stoessl, Otto: Geschwister
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Ernst, Paul: Minna
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https://doi.org/10.11588/diglit.26489#0111

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mißtrauisch und ängstlich geworden war, konnte ihre
Ruhelosigkeit langsam und sicher an ihr nagen, bis sie
unfehlbar ausgesogen, in ihrem Schmutz und Elend auf
einem Strohsack lag, neben dem unberührten Bett ihres
niegewesenen Gatten. Als ihr Bruder kam, leuchteten
ihre alten Raubvogelaugen noch einmal in alter Hellig-
keit auf, denn sie sah es ihm gleich an, daß es bei ihm
wieder ein Unheil gegeben hatte, und sie richtete sich mit
ungewohnter Kraft auf, ihm den alten Faltenhals ent-
gegenreckend, um gleich auf ihre Beute von schlechter
Nachricht zu stoßen. Mudra stotterte, was er eben zu
stottern hatte.

Sie lachte und ein Schein von alter Glückseligkeit,
fast von Güte zog über ihr verrunzeltes Gesicht, als sie
die Geschichte erfaßte. Aum letztenmal hatte ihr Schnabel
einen roten Bissen, ein Stück lebendiges Herz auS dem
Leib bekommen und tat sich daran gütlich. Das war
Schadenfreude, aber nicht einmal besonders böse, son-
dern versöhnt mit der Gerechtigkeit und Iuverlässigkeit
des Schicksals: er war doch immer glcich dumm! Man
konnte kein Mitleid mit dem Bruder Narren haben. Wie
sie lachte, verzerrte sich des Bruders Gesicht zu einer
eigentümlichen Gebärde, die nicht mehr eines Menschen
Schmerz und Qual, sondern einee Tieres ewiges ge-
schlagenes Elend schien. Er stöhnte ... „Du nichts." „Jch
nichts," lachte sie und lachte so laut, daß es in einen
Hustenanfall überging, der sie tötete. f706j

inna.

Als Lessing die Minna von Barnhelm dich-
tete, ging er von dem Charakter des Tellheim aus. Tell-
heim ist die Sonne, um welche sich sämtliche Figuren des
Stückes, selbst der Wirt, als Planeten bewegen. Die
Charaktere dieser anderen Figuren sind alle auf seinen
Charakter gestimmt: sie heben ihn hervor durch nähere
und entferntere Ahnlichkeit, durch stärkeren und ge-
ringeren Kontrast.

Die Handlung des Lustspiels ist nicht sehr stark. Es
wird sehr viel Raum durch Episoden ausgefüllt. Just,
Werner, der Wirt, die Dame in Trauer, Riccaut, sind
teilweise reine Episodenfiguren, teilweise tragen sie weit
über das dramatisch Notwendige hinaus episodische Iüge.
Auch so gibt die Handlung nicht genug her, und es muß
die künstliche Jntrige mit dem Ring eingefädelt werden.

Aber gerade dadurch, daß die Handlung nicht ener-
gisch vorwärts treibt, sich nicht vielfältig in einen Knoten
verwickelt, der unlösbar scheint und unsern Verstand in
Anspruch nimmt, gerade dadurch bleibt Raum genug
für die reizende und liebenswürdige Charakteristik dcs
Lustspiels.

Hier kann man nun etwas sehr Merkwürdiges be-
obachten.

Das Gegenspiel zu Tellheim gibt Minna. Betrachtet
man ihren Charakter, ohne sich über die technischen Ver-
wicklungen Rechenschaft abzulegen, so erscheint derselbe
doch als der natürlichste, ungezwungenste des Stücks,
erscheint er fast wie unmittelbar nach dem Leben gezeich-
net. Untersucht man aber, welche Rolle er in der
Lkonomie der Handlung zu spielen hat, so findet man,
daß er rein durch die Konstruktion des Lustspiels bedingt

Geschwisier.

ist, daß er bis ins einzelne hinein gegeben wird durch den
Charakter des Tellheim.

Dieser aber muß der im Geniüt des Dichters zuerst
vorhandene Charakter gewesen sein, weil alle übrigen
Charaktere auf ihn orientiert sind.

Wir können, wenn wir von ihm ausgehen, nicht nur
die Konstruktion des Stückes nachdichten, wie sie wahr-
scheinlich in Lessing sich gebildet hat, sondern auch den
dichterischen Vorgang bcobachten bei dcm Schaffen
eines so reizenden Charakters wie Minna ist.

Das spezifisch preußische Wesen bildete sich zu Be-
wußtsein unter und durch Friedrich den Großen. Lessing
hat diesen Bildungsprozeß mit erlebt; man kann sagen,
daß er mit an ihm teilgenommen hat.

Ein bedeutender Dichter unterliegt nun niemals passiv
den Vorgängen der Wirklichkeit; er erlebt sie sehr stark, aber
er stellt sich ihnen immer selbständig gegenüber, indem er in
der Phantasie die Weiterbildungen vor sich gehen läßt, die
in der Wirklichkeit selten oder nie vor sich gehen. So muß
derDichternotwendig daraufkommen,daß seine Phantasie
das komische Gegenbild der ernsten Vorgänge ausmalt.

Das Tragische ist ja für die Leute schon schwer zu
verstehen; das Komische fällt ihnen noch viel schwerer.
Man kann sich wohl die Beweglichkeit der Phantasie nicht
vorstellen, bei welcher man dasselbe Gefühl ernst haben
kann und doch komisch nimmt. So weiß man etwa mit
den komischen Figuren in der gotischen Plastik nichts
Rechtes anzufangen. Man nehme also hin, daß dem
Dichter, der ja doch selber ein Tellheim war, in chaotischen
Formen die Gestalt eines Mannes auftaucht, in dem sich
alles um Chre und Pflicht dreht, und der, indem er
dadurch in einen scheinbar unlöslichen Widerspruch mit
der Natur kommt, komisch wird.

Man kann um die Figur natürlich nur ein Lustspiel
bauen; und er kann als Gegenspiel nur eine weibliche
Person haben. Erstens, aus allgemeinen Gründen der
Bühne, wo es eben immer vorteilbafter ist, wenn sich
die Geschlechter gegenüberstehen, und wo mon natürlich
diesen Vorteil auSnutzt, wenn es geht. Aweitens, weil ein
männliches Gegenspiel entweder eine Wiederholung des
Charakters sein müßte, etwa auf einer andern Stufe,
so, wie es Werner ist; das gibt aber nur eine Episode
her; oder das Gegenteil, naive Gemeinheit, wie der
Wirt; da ist aber nicht genug mögliche Reibung, um eine
eigentliche Handlung zu erzielen, denn solche Menschen
haben gar nichts miteinander gemein. Lessing ist von
unsern großen Dichtern ja der einzige, der sich gegen seinen
Vorwurf immer freistellt und ihn, in der Art der antiken
Tragiker, nach den Bedürfnissen seines Dramas verändert,
wie er etwa die Emilia aus der Virginia durch Konstruk-
tion entwickelt hat. Es ist also bei der Gangart seiner
Phantasie nicht unmöglich, daß er Werner und Wirt
eme Weile als Gegenspieler durchgedacht hat und so auf
diese Figuren gekommen ist.

Es bleibt also als Gegenspiel ein weibliches Wesen.
Vielleicht ist auch die Dame in Trauer ein Fehlgang der
konstruierenden Phantasie gewesen und sollte ursprüng-
lich das Gegenspiel sein. Aber auch sie kann nur eine
Episode hergeben. Es ist sehr möglich, daß die Phantasie,
welche den steifen, halsstarrigen Mann vor den Augen
hat, auf eine Liebesbeziehung zuletzt kommen wird.

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