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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 18.1927-1928

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Heft 8
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Walden, Herwarth: Sowjet-Russland
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https://doi.org/10.11588/diglit.47218#0117

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net. Eingang- durch zahllose verschlossene
und gesicherte Türen. Jede einzelne von ei-
nem Wächter bewacht. Nach dem Oeffnen
der letzten Tür befindet man sich plötzlich
in einer Fabrik. Das ehemalige Verwaltungs-
gebäude. Hunderte von Zuchthäuslern in
ihrer gewöhnlichen Kleidung an den Maschi-
nen Jeder Gefangene hat gesetzlich das Recht
auf Arbeit. Falls er nichts gelernt hat, wird
er nach seiner Wahl angelernt. Die Arbeit
ist nur ein Recht, nicht ein Zwang. Von
diesem Recht machen zurzeit nur zwei Ge-
fangene keinen Gebrauch. Ein Fürst, wegen
Hochverrats verurteilt, der auch in seiner Zelle
nicht empfängt. Und ein Pope, verurteilt we-
gen Anstiftung zum Mord eines Arbeiterkor-
respondenten. Er empfängt, hat sich eine
kleine Privatkirche mit allen Schikanen in
seiner Zelle eingerichtet und vertreibt sich
den Tag in seiner Popenkleidung mit Beten.
Die Strafe wird in der Verurteilung gesehen.
Nach der Verurteilung gibt es außer der Frei-
heitsbeschränkung nach außen keine Bestra-
fung. Deshalb wird auch den Gefangenen die
eigene Kleidung gelassen. Die Arbeit wird
vom ersten Tage an bezahlt. Der Gefan-
gene verdient durchschnittlich im Monat drei-
ßig bis vierzig Rubel, im Stücklohn zum
Teil bedeutend mehr. Ein Drittel des Lohns
wird ihm im Anfang sogar auf Vorschuß aus-
gezahlt, den er zu eigenen Einkäufen in der
Kantine für besondere Lebensmittel, Zigaret-
ten, Bücher usw. verwenden kann. Ueber
sein gesamtes Einkommen kann er insoweit
frei verfügen, als er einen Teil seinen Ange-
hörigen schicken lassen kann, das übrige Geld
nach Verbüßung der Strafe bar ausgezahlt
bekommt. Die Gefängnisverwaltung hat das
Recht, Anträge auf Erlaß der Strafe bis zur
Hälfte der Zeit bei der zuständigen Behörde
zu stellen, falls der Gefangene sich gut führt
und gut arbeitet. Diesen Anträgen wird
grundsätzlich stattgegeben. Es wird auch für
die unmittelbare Anstellung des Gefangenen
nach seiner Entlassung in einer Fabrik, in
einem Betrieb oder in einem Büro gesorgt.

Die Arbeitszeit ist acht Stunden von acht bis
fünf mit einer Stunde Mittagspause. Nacht-
arbeit dauert sechs Stunden. Von fünf bis
sechs Spaziergang im Gefängnishof mit dem
Recht der unbeaufsichtigten freien Unterhal-
tung. Um sechs Uhr beginnt die Kulturarbeit,
an der sich fast alle Gefangenen beteiligen.
Man hat die ehemalige Betkapelle zu einem
Arbeiterklub eingerichtet. Hier finden Kon-
zerte, Theatervorstellungen der Gefangenen,
Vorträge und Vorlesungen statt. Da den Ge-
fangenen zurzeit der alte Flügel nicht mehr
genügt, haben sie beschlossen, aus zusam-
mengelegten eigenen Mitteln sich einen neuen
anzuschaffen. Auch in der Betkapelle muß-
ten sich die Gefangenen in Isolierzellen auf-
halten, damit sie nicht miteinander Fühlung
nehmen konnten. Diese Zellen sind in Zim-
mer für die einzelnen Lehrzirkel umgebaut.
Der wichtigste Zirkel ist für Liquidierung des
Analphabetentums. Niemand verläßt das Ge-
fängnis, ohne lesen, schreiben und rechnen
zu können. Es sind ferner Zirkel für Politik
und für Spezialunterricht auf den Gebieten
der Landwirtschaft, Industrie, der Berufe und
der allgemeinen Kultur errichtet. Alle wich-
tigen Zeitungen liegen aus. Der Gefangene
kann sich auch auf eigene Kosten Zeitungen
abonnieren. Das Gefängnis hat ferner eine
Leihbibliothek und Buchhandlung. Zwei Ge-
fangene haben eine Frisierstube errichtet, die
die Gefangenen besonders stark vor dem Be-
such ihrer Angehörigen benutzen. Diese Be-
suche sind einmal wöchentlich gestattet. Man
darf sich aber nur durch Gitterfenster unter-
halten, zwischen denen ein breiter Gang liegt.
Pakete dürfen beliebig nach Untersuchung
des Inhalts übergeben werden. Die Mahl-
zeiten am Mittag und am Abend haben ein
Gewicht von anderthalb Pfund, der Kalorien-
gehalt ist amtlich vorgeschrieben und darf von
den Gefangenen kontrolliert werden. Mittags
gibt es Borschzsch, eine dicke Suppe mit ver-
schiedenen Gemüsen und einem großen Stück
Fleisch. Abends Kascha, eine nahrhafte Grütze
und Fleisch. Morgens wird nur kochendes

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