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Zeitschrift für christliche Kunst — 13.1900

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Schröder, Alfred: Spätgothik und Protestantismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.3912#0108

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155

1900. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 5.

15G

jene in Betracht, die nicht Bischofssitze waren und deshalb
eines hervorragend monumentalen Kirchengebäudes
noch entbehrten — zur höchsten Blüthe entfalteten. Diese
Entwicklung fällt ins XIV. Jahrh. Damals gewannen die
Zünfte Antheil am Stadtregiment und brachten einen
frischen Zug in das innere Leben der städtischen Ge-
meinwesen ; damals begannen die Städte sich durch
Bündnisse auch zu politischer Selbständigkeit und zu
einem wichtigen Faktor der Reichsgeschicke aufzu-
schwingen. Das Wachsthum der städtischen Be-
völkerung machte neue Kirchenbauten nöthig, ihr
gesleigertes Selbstgefühl liefs sie in monumentalen
Formen erstehen. Die Seelsorge an diesen Kirchen
aber wurde nicht, wie an den bisherigen Pfarrkirchen
grofsen Stiles, einem in klösterlicher Verfassung
lebenden Klerus übertragen, sondern sie blieb wie es
in diesen Städten unter den einfacheren Verhältnissen
der früheren Zeit gewesen war, dem Leutpriester über-
lassen, zu dessen Unterstützung Pfründen für Pfarr-
helfer und Mefspriester theils schon bestanden, zum
gröfseren Theil neu gestiftet wurden. Diese Form
der Kirchenversorgung mochte den selbstbewufsten
und herrschgewaltigen Communen umsomehr zusagen,
als sie ihnen durch dasPatronatsrecht auf die meisten und
wichtigsten Pfründen einen namhaften Einflufs auch
in kirchlichen Dingen sicherte. Es gab also letzt
erst monumentale Kirchenbauten mit dem Charakter
von reinen Pfarrkirchen; denn für die Seelsorgsgeist-
lichkeit dieser Stadtkirchen bestand keine Verpflichtung
zu regelmäfsigem Chordienst.

Es war ganz natürlich, dafs hier die gewaltige
Choranlage der Kathedral- und Klosterkirchen weg-
fiel. Die Chorvereinfachung und damit auch die
Verschmelzung des Chores mit dem Gemeinde-
haus erklärt sich aus dem geschichtlichen Ent-
wicklungsgang der Dinge so vollständig, dafs es
ganz überflüssig erscheint, zu ihrer Erklärung die
unerweisbare Absicht heranzuziehen, als habe jetzt
die Gemeinde das Bedürfnifs gefühlt, im Sinne
der protestantischen Lehre vom Laienpriesterthum
„den ganzen Raum souverän zu beherrschen'' und
die „Erinnerung an die Gröfse klerikaler Macht"
zu verwischen. Und wenn jetzt erst an die Bau-
meister die Aufgabe herantrat, Kirchen monumen-
talen Stiles zu schaffen, deren Bestimmung sich
im Gemeindegottesdienst erschöpfte, so erklärt
sich daraus im Zusammenhalt mit den technischen
Fortschritten der Spälgothik wiederum zur vollsten
Genüge, warum man die Hallenkirche bevorzugte
und Weiträumigkeit bei schlanker Pfeilerbildung und
komplicirter Wölbung anstrebte. Es überschreitet
doch schon die Grenze zum Lächerlichen, wenn man
den schlanken Pfeilern oder der Hallenform oder der
Deckenabflachung oder der natürlichen lichten Stein-
farbe häretischen Charakter beimessen will; derlei
Aufstellungen vertragen sich nicht mehr mit dem
Ernste der Wissenschaft. Oder will man wirklich be-
haupten — vom Beweise gar nicht zu reden —, dafs
die Seelsorge durch Predigt und Gemeindegottesdienst
eine spezifisch protestantische Einrichtung sei? Wenn
nicht, so lasse man die monumentalen Seelsorgs-
kirchen, für die eben vor dem XIV. Jahrh. das Pro-
blem noch nicht gestellt war, beim Katholicismus,
dessen Geist sie entsprungen sind. Denn es ist doch

weiter nichts als eine petilio principii, zu sagen, ein
„reformatorischer Zug" äufsere sich in dem System,
weil die Zeitstimmung „reformatorisch" war, und
dafs sie dies war, ersieht man aus dem System.
Aber vielleicht ist das der reformatorische Zug, dafs
man jene monumentalen Pfarrkirchen für eine von
der Stadtgemeinde in gewisser Abhängigkeit stehende
Wellgeistlichkeit, und nicht, wie in früheren Jahr-
hunderten , für einen klösterlichen Klerus berech-
net hat. Nun dann kann man jede Anpassung
der katholischen Kirche an die Forderungen der Zeit
als einen Abfall von ihrer Idee bezeichnen. Vielleicht
ist dieser Vorwurf aber leichter zu ertragen, als die
sonst unausbleibliche Anklage, dafs die Kirche schon
im Mittelalter bis zur Bildungsunfähigkeit erstarrt ge-
wesen sei. Die Umgestaltung des Raumschemas, die
von der ausschliefslichen Zweckbestimmung monumen-
taler Kirchenbauten für Predigt und Gemeindegottes-
dienst ihren Ausgang nahm, war eine katholische
That, und wer die vorausgehende liturgie-geschicht-
liche Entwicklung kennt und ein gewisses Anpassungs-
vermögen der Kirche als einen ihrer Vorzüge an-
erkennt, wodurch sie sich so wenig untreu wird, dafs
sie sich gerade dadurch die Erfüllung ihrer Mission
unter den wechselnden äufseren Verhältnissen er-
möglicht, der braucht die Baumeister von damals und
ihre Auftraggeber nicht in einen unkontrolierbaren
Zusammenhang zu bringen mit einer „Bewegung, die
in ihren Reformationsplänen auf einen Umsturz des
kirchlichen Kultus ausging."

Zum Schlüsse noch eine Ergänzung. Haenel hat
im Eifer für Spätgothik und „reformatorischen Geist"
einen Bau völlig übersehen, der für den Wandel des
Systems oder genauer für die Umbildung der Chor-
kirche in die Pfarrkirche schon wegen seiner Zeit-
stellung sehr bedeutungsvoll ist, nämlich die höchst
originelle „alte Pfarre zu St. Ulrich" in Regensburg
aus der Mitte des XIII. Jahrh. Schon hundert Jahre
vor Gmünd hat man hier die wichtige Frage, wie
das herkömmliche Schema dem ausschliefslichen
Zwecke des Gemeindegottesdienstes anzupassen sei,
theilweise mit denselben Mitteln gelöst, wie sie der
Spätgothik geläufig waren. Da ziehen sich Emporen
über alle vier Innenwände hin, auch zu beiden Seiten
des Choraltares; es wurde also hier schon, reichlich
zwei einhalb Jahrhunderte vor der Reformation, „selbst
die Stätte der heiligsten Handlungen dem Horizonta-
lismus" unterworfen, ohne dafs irgend etwas berech-
tigte, dieses Vordringen der Emporen bis in die Chor-
partie „als unmittelbaren Ausdruck eines religiösen
Umschwungs" zu erklären. Der Chor ferner bildet
keinen selbständigen Bautheil, ist vielmehr mit dem
Gemeinderaum so völlig zu einer Einheit verschmolzen,
dafs er nur eine von Emporeneinbauten eingeschlossene
Nische darstellt und im rechteckigen Umrifs des Aufsen-
baues überhaupt nicht hervortritt. Die Seitenschiffe
stören bei ihrer geringen Tiefe die Einheit des Innen-
raums nicht, sie verlieren überdies durch die Emporen
die Bedeutung von selbständigen Nebenräumen. In
der Anlage des Hauptschiffes ist die Längenachse völlig
überwunden; Länge und Breite des freien Mittelraumes
verhalten sich wie 5:4. Mehr nochl Ueber diesen
Mittelraum legt sich eine flache Decke und die drei-
schiffige Westempore von zwei Joch Tiefe ist als
 
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