DIE ANSPRÜCHE DES MODERNEN KUNSTGEWERBES
E
s ist oft gesagt worden, daß der Begriff »Kunstge- darf, an einem grammatischen Mangel, indem sie die
werbe« aus zwei sich widersprechenden, ja sich Richtung, das Objekt der Brauchbarkeit nicht angibt,
einander ausschließenden Teilen besteht, aber es ist wohl dann aber auch über deren Form und deren Wurzel und
nicht genügend Bewußtsein geworden, daß das Wort Intensität völlig im unklaren läßt. Es ergeben sich erst
den Komplex von Gegenständen, den es meint, aus zwei hieraus die genaueren Unterschiede zwischen dem kunst-
ihm wesensfremden Elementen komponierend aufzubauen gewerblichen und dem künstlerischen Werk, denn es zeigt
sucht, so daß er mitten zwischen den beiden — durchaus sich, daß das erste sich weit vorzüglicher an den Körper
nicht einzig möglichen — Worten unbezeichnet liegen des Menschen wendet, zuerst zu dem Leibe und seinen
bleibt — eine Tatsache, die nicht nur für die Grenze der Funktionen und Bedürfnissen in Beziehung tritt, während
Sprachbildung, solange sich diese in Relation zur Wirk- die Körperempfindungen, welche die Betrachtung des
lichkeit bewegt, charakteristisch wäre, sondern auch für Kunstwerkes auslöst, nur (wenn auch stetige und not-
den formenden Volksgeist, wenn nicht in dem bezeich- wendige) Begleiterscheinungen sind. Der Sessel meint
neten Gegenstand selbst dieses Gemisch aus verschiede- den sitzenden, das Kleid den sich als soziales Wesen
nen Elementen größer wäre als seine Einheit. dieser Zeit bekleidenden, das Bild aber den geistigen
Man ist bei der Definition des gemeinten Vorstellungs- Menschen, der, von der körperhaften Realität in ihren
kreises »Kunstgewerbe« fast allgemein und einseitig von Vereinzelungen losgelöst, die Fähigkeit hat, sich einer
einem äußeren Moment ausgegangen: dem der Brauch- Vorstellungstotalität, ausgedrückt in einer individuellen
barkeit, indem man ungefähr sagte, daß, während »das Erscheinung und spezifischen Mitteln, hinzugeben. —
Kunstwerk selbstherrlich in sich geschlossen ist«, der Die Beziehung des kunstgewerblichen Gegenstandes zum
kunstgewerbliche Gegenstand »immer einem Zweck dient, Menschen ist also unmittelbarer, aber gerade darum ist
den viele Menschen haben« (Simmel). Diese Bestimmung es umso merkwürdiger, daß die Richtungsverhältnisse
leidet — ganz abgesehen davon, daß die geringsten dieser Beziehung so verschieden geordnet sind. Denn
dialektischen Künste sie in ihr Gegenteil verwandeln während das Kunstwerk den Menschen beherrscht, ihn,
könnten, sobald man voraussetzt, daß das künstlerische sobald er in seine Blicknähe kommt, auslöscht, um ihn
Schaffen überhaupt einem von der ganzen Menschheit sozusagen nur noch virtuell existieren zu lassen, während
getragenen Zwecke dient — zunächst, wenn ich so sagen es gerade in dieser Tilgungsfähigkeit ein Wertkriterium
PROFESSOR EDMUND KORNER - DARMSTADT UND ESSEN. »DER DIPPELSHOF« BEI DARMSTADT. FENSTERPLATZ AUS DEM MUSIKSAAL
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s ist oft gesagt worden, daß der Begriff »Kunstge- darf, an einem grammatischen Mangel, indem sie die
werbe« aus zwei sich widersprechenden, ja sich Richtung, das Objekt der Brauchbarkeit nicht angibt,
einander ausschließenden Teilen besteht, aber es ist wohl dann aber auch über deren Form und deren Wurzel und
nicht genügend Bewußtsein geworden, daß das Wort Intensität völlig im unklaren läßt. Es ergeben sich erst
den Komplex von Gegenständen, den es meint, aus zwei hieraus die genaueren Unterschiede zwischen dem kunst-
ihm wesensfremden Elementen komponierend aufzubauen gewerblichen und dem künstlerischen Werk, denn es zeigt
sucht, so daß er mitten zwischen den beiden — durchaus sich, daß das erste sich weit vorzüglicher an den Körper
nicht einzig möglichen — Worten unbezeichnet liegen des Menschen wendet, zuerst zu dem Leibe und seinen
bleibt — eine Tatsache, die nicht nur für die Grenze der Funktionen und Bedürfnissen in Beziehung tritt, während
Sprachbildung, solange sich diese in Relation zur Wirk- die Körperempfindungen, welche die Betrachtung des
lichkeit bewegt, charakteristisch wäre, sondern auch für Kunstwerkes auslöst, nur (wenn auch stetige und not-
den formenden Volksgeist, wenn nicht in dem bezeich- wendige) Begleiterscheinungen sind. Der Sessel meint
neten Gegenstand selbst dieses Gemisch aus verschiede- den sitzenden, das Kleid den sich als soziales Wesen
nen Elementen größer wäre als seine Einheit. dieser Zeit bekleidenden, das Bild aber den geistigen
Man ist bei der Definition des gemeinten Vorstellungs- Menschen, der, von der körperhaften Realität in ihren
kreises »Kunstgewerbe« fast allgemein und einseitig von Vereinzelungen losgelöst, die Fähigkeit hat, sich einer
einem äußeren Moment ausgegangen: dem der Brauch- Vorstellungstotalität, ausgedrückt in einer individuellen
barkeit, indem man ungefähr sagte, daß, während »das Erscheinung und spezifischen Mitteln, hinzugeben. —
Kunstwerk selbstherrlich in sich geschlossen ist«, der Die Beziehung des kunstgewerblichen Gegenstandes zum
kunstgewerbliche Gegenstand »immer einem Zweck dient, Menschen ist also unmittelbarer, aber gerade darum ist
den viele Menschen haben« (Simmel). Diese Bestimmung es umso merkwürdiger, daß die Richtungsverhältnisse
leidet — ganz abgesehen davon, daß die geringsten dieser Beziehung so verschieden geordnet sind. Denn
dialektischen Künste sie in ihr Gegenteil verwandeln während das Kunstwerk den Menschen beherrscht, ihn,
könnten, sobald man voraussetzt, daß das künstlerische sobald er in seine Blicknähe kommt, auslöscht, um ihn
Schaffen überhaupt einem von der ganzen Menschheit sozusagen nur noch virtuell existieren zu lassen, während
getragenen Zwecke dient — zunächst, wenn ich so sagen es gerade in dieser Tilgungsfähigkeit ein Wertkriterium
PROFESSOR EDMUND KORNER - DARMSTADT UND ESSEN. »DER DIPPELSHOF« BEI DARMSTADT. FENSTERPLATZ AUS DEM MUSIKSAAL