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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 27.1916

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Wandlungen in der neuen Baukunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.10023#0139

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INNEN-DEKORATION

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WANDLUNGEN IN DER NEUEREN BAUKUNST

Nach der französischen Revolution regiert der Nütz-
lichkeitsstandpunkt in allen Baugattungen. Der wich-
tigste Bauherr wird der moderne Staat. Es entstehen neue
Zwecke und damit neue Gebäudetypen, es verselbstän-
digen sich alte Zwecke, erleben eine Spezialentwicklung,
die sich in den Raumformen niederschlägt. Die Einrich-
tung stehender Heere, die Entwicklung von Post und
Eisenbahn, die Entfaltung öffentlicher Fürsorge für Kranke,
Irre, Greise, die Komplikation in der Verwaltung des
Staates wie der Justiz, die Ausbreitung der Volksschulen,
höheren Schulen, die Sorge für öffentliche Sammlungen,
für die Pflege der Musik usw. führen Jahrzehnt um Jahr-
zehnt zu einer immer größeren Spezialisierung. Der
Kirchenbau ist eine Gattung neben vielen, er ist nicht
tonangebend, aber ebensowenig eine bestimmte Gattung
des Profanbaues, auch das Zinshaus nicht, das langsam
das alte Bürgerhaus verdrängt. Der Zweck erlebt im
19. Jahrhundert eine Entwicklung von einem Reichtum,
neben dem die gesamte vorausgegangene Zeit armselig
erscheint, aber nirgends ist eine entschiedene Gesinnung
in zentrifugaler oder zentripetaler Richtung zu erkennen.
Der Bauherr wird unpersönlich. Im Zinshaus bewohnt
der Hausherr ein Stockwerk oder die eine Hälfte des
Stockwerks genau wie jeder seiner Mieter. Und so wie
im Zinshaus, rechnet man in allen anderen Gebäuden mit
einem fluktuierenden Publikum oder mit bestimmten
Klassen, die sich durch ihren Vermögensstand abstufen
und je nach ihrer Zahlfähigkeit im Theater z. B. verschie-
dene Plätze beanspruchen dürfen. Die Kaufkraft fängt
an, die Persönlichkeit zu ersetzen, und ist mitunter tat-

sächlich imstande, auch künstlerisch das Bauprogramm
zu erfassen. Der Reichtum einzelner erzeugt auch wieder
größere schloßartige Gebäude, aber sie verschwinden in
der Masse völlig unpersönlicher Bauten. In der Kirche
und im Palast gab es einen dauernden Bewohner, dessen
Verhalten oder gedachtes Verhalten gegen die wechseln-
den Besucher ein bestimmtes und dauerndes war, jetzt
sind die Bauten Schalen, die vorübergehend von Leuten
benutzt werden, die darin gesund werden wollen oder
baden wollen, oder lernen, lesen, kaufen usw., es ist nur
die Partei der Wechselnden da, der Bau gehört allen,
und gehört niemand. Es ist nicht die Dichtkunst im
Theater, die Wissenschaft in der Schule, die Hygiene in
der Badeanstalt der fehlende Gegenpart, obwohl meist
allegorische Figuren an diese Allgemeinbegriffe erinnern,
es bleibt das Nutzgebäude. Und da in allen diesen Fällen
ein dauernder Bewohner nicht vorhanden ist, so bleiben
diese sämtlichen Bauten entgeistet, bis zu dem Augen-
blick, da das Publikum selbst die Rolle des dauernden
Besitzers ergreift, und selbstherrisch mit seinen sämtlichen
Ansprüchen durchdringt. Dies Auftreten eines persön-
lich werdenden Publikums an Stelle der unpersönlichen
Beamtenschaft, oder vielmehr die Zuweisung dieser Rolle
an das Publikum durch die Architekten, ist die Charak-
teristik der modernsten Baukunst. Ich habe mich damit
nicht mehr zu befassen, nur andeuten muß ich es. Wenn
in den Wiener Hofmuseen prunkvolle, weiträumige Vesti-
büle und Treppen den Besucher überraschen, so muß er
sich fragen, wer tritt hier so groß auf; es ist der Hof;
aber genau besehen, empfängt uns niemand in diesen
 
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