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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 27.1916

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Weinmayer, Konrad: Stil-Wandlungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.10023#0477

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INNEN-DEKORATION

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STIL-WANDLUNGEN

Stil ist Richtung, Richtung auf die Schönheit. Das Ziel
verändert sich nie, nur der Weg dorthin. Ein Stil
ist gleichsam ein organisches Wesen, aus der Allkraft ge-
faßt in eine Form, mit Anfang und Ende, mit Geburt und
Tod, befruchtet von der ununterbrochenen Erneuerung
der Geschlechter, vom biogenetischen Gesetz.

Auch der Stil wächst; saugt an Mutterbrüsten; ist
der Erbe alter Ahnen und ihr aller Tod. Die Menschen
verlachen seine Emanzipation. Das ist Regel. Ein paar
Atome spinnen das Todesröcheln des alten Stiles noch
weit ins Leben des neuen fort. Sie nisten verachtet
in einem Winkel des neuen Hauses, bis an den großen
Tag, da sie sich wandeln, da sie dem Neuen von un-
gefähr auffallen, da er sie mitleidvoll beschaut, sie selt-
sam findet, verwandte Kraft entdeckt und vielleicht von
einem von ihnen den ganzen alten Stil neu aufrollt, nicht
wie er gelebt, nein, alle Kräfte des Entwicklungsparallelo-
gramms verschoben von dem großen Magneten des
neuen Willens. Bei jedem Zug ächzt und stöhnt es. —
Es ist das Recht des Lebens, nicht darauf zu achten.

Niemand weiß, wie ein Stil einmal wieder aufersteht.
Ein Stil stirbt, heißt, er tritt einen großen Schlummer an.
Der lebendige Stil geht mit der Wünschelrute das Riesen-
feld der ganzen Kunst ab, und wo sie ausschlägt, weil sie
verwandten Puls fühlt, da gräbt er und erlöst die schlum-
mernde Kraft zu neuem Leben. Unsere Neuesten — es
ist hier wohl kaum nötig, ihr Wesen — im Grundsatz —
als psychologisch folgerichtige Antwort an ihre Mutter
und als ahnungsvollen Ruf in die gewaltigste Revolution
der Weltgeschichte hinein, der man in ihrem Riesen-
kampf nun einmal mit dem »Photographenapparat« nicht
folgen kann, besonders zu rechtfertigen — haben el Grecco
aus dem Dunkel hervorgeholt und von ihm begeistert die
ganze große spanische Malerei abgelesen, von jenem

griechischen Eindringling, jenem glänzenden Manieristen
— Manierismus mit Manie in Verbindung gebracht. Man
vergleiche seinen »Bruder« Tintoretto! —, der die Formen
Venedigs mit rasendem Temperament um sich schleudert
und in metaphysischen Farben schwelgt. Unsere Neuen
haben dem frühgotischen Holzschnitt die schwere Zunge
gelöst und wiederum seine Farben hoch gepriesen, die
kaum aus positiver farbenkompositioneller Absicht ent-
standen waren. — So zu handeln ist das unbedingte
Recht der lebenden Jugend. Die Seele der Entwicklung
verfliegt, nur die geschaffenen Energien leben latent fort,
ohne Führung. Die Absicht stirbt. Der Wille des Leben-
digen haucht ihm seine Absicht ein, und wenn aller alte
Wille dabei unter die Räder kommt. Ein dienender Be-
standteil eines Stiles kann in einem späteren Herren-
manieren annehmen — die Skizze — Leere kann Größe
werden, zeichnerisch — malerisch — psychisch — stoff-
lich — und umgekehrt. Es mag nur noch aus unserer
letzten Zeit an die Entdeckung der »Ideen« erinnert
werden, dieses überragenden Prosawerkes unseres großen
Lyrikers Heine. Oder an die Rahmung von alter Graphik,
von Graphik überhaupt! Man nahm ihr den breiten Rand,
der ihre Herkunft aus dem Buch verständnisvoll gewahrt
und sie als Graphik erhalten hatte, über die man sich
liebevoll beugen sollte. Man rahmte sie scharf um den
Plattenrand, trieb sie zum Klotzen heraus, erlöste die
Bildwirkung, und führte sie in die Malerei über. Solche
Beispiele sind zahllos.

In den nächsten Jahrzehnten werden wir an der Neu-
entdeckung, vielleicht der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts,
über diese Fragen genaue psychologische Studien machen
müssen. Schon sehen wir die verhaßte menschliche Un-
wahrheit und Süßlichkeit im ganzen Auftreten jener Stil-
periode sich da und dort verflüchtigen, dr. k. weinmayer.

1916. xii. 5.
 
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