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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 7.1896

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Drei Antrittsreden deutscher Professoren
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https://doi.org/10.11588/diglit.5774#0140

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267

unbewusst ein grundlegender Bestandteil in der Ge-
schichte der Weltanschauungen."

Der Autor hat seinen geistvollen, nur bisweilen
durch eine zu wenig abgeklärte Sprache verdunkelten
Erörterungen eine Anzahl von litterarischen Hinweisen
beigefügt, aus denen hervorgeht, dass von den früheren
Betrachtern des Gegenstandes H. Schliepmann („Betrach-
tungen über Baukunst", 1891) und Th. Lipps („Ästhe-
tische Faktoren der Kaumanschauung", 1891) ihm am
nächsten stehen. Unbekannt scheint ihm eine gedanken-
reiche Schrift von Hans Auer geblieben zu sein (,,Der
Einfluss der Konstruktion auf die Entwicklung der Bau-
stile", 1891), in welcher dem Raumgedanken dieselbe
Wichtigkeit vindizirt wird, wie sie Schmarsow mit
Recht betont. —

Der zweite akademische Redner, Konrad Lange,
Professor der mittelalterlichen und neueren Kunst-
geschichte an der Universität Tübingen, greift weit über
das von Schmarsow betretene Gebiet hinaus und versucht
nichts Geringeres als eine Darlegung neuer Grundzüge
für die Theorie der Kunst im Allgemeinen. Die Rede
soll als Vorläuferin der ausführlichen „Kunstlehre" gelten,
an welcher der Verfasser arbeitet. Lange bezeichnet
darin 1) die „künstlerische Täuschung" als das gemeinsame
Kennzeichen aller Künste und gelangt, nachdem er die
früheren ästhetischen Systeme einer negativen Kritik
unterzogen, zu der nachfolgenden Definition:

„Kunst ist eine durch Übung erworbene Fähigkeit
des Menschen, anderen ein von praktischen Interessen
losgelöstes, auf einer bewussten Selbsttäuschung be-
ruhendes Vergnügen zu bereiten." In der „bewussten
Selbsttäuschung" erkennt Lange den „eigentlich domini-
renden Reiz" der Kunst. Nur dieser ist, „sei es in
der Form der Naturnachahmung, sei es in der der
Stimmung, in allen Künsten und zu allen Zeiten der
Kunstentwicklung zu finden". Unter den früheren Defi-
nitionen, die der Autor Revue passiren lägst, bekämpft
er mit besonderem Nachdruck die Schönheitstheorie. Die
Kunst hat nicht das „Schöne" darzustellen, sagt er, sondern
sie hat „Werte zu schaffen, die den Reiz der bewussten
Selbsttäuschung erzeugen". So findet auch das Hässliche
und Schlechte in der Kunst seinen Platz. Es wird von
ihr jedoch nicht um seiner selbst willen dargestellt,
sondern nur weil es eine Illusion erzeugt, weil es den
Genießenden zu einer bewussten Selbsttäuschung anregt.
Das Vergnügen an tragischen Gegenständen, selbst das
verpönte Schicksalsdrama, die Bilder von Schiffbrüchen
und Feuersbrünsten, kurz alles, was im Leben und in
der Natur Unlust, Grausen und Schrecken erregt, wird
in der Kunst verständlich, weil alle diese Dinge ja von

1) Die bewusste Selbsttäuschung als Kern des künst-
lerischen Genusses. Antrittsvorlesung, gehalten in der Aula
der Umverität Tübingen um 15. November 1894. Leipzig,
Veit & Co. 1895. 34 S. 8".

ihr nur als Illusion uns vorgeführt werden, auf die wir
mittels bewusster Selbsttäuschung eingehen. Die be-
wusste Selbsttäuschung deckt sich weder mit dem
Gehalt noch mit der Form der Kunst, sie ist ein
„dazwischen liegendes Drittes". Der Autor will also
weder mit den „Gehaltsästhetikern" noch mit den „Form-
ästhetikern" etwas zu schaffen haben. Mit Entschieden-
heit verwirft er namentlich den „falschverstandenen
Klassicismus" oder „Piatonismus". „Da die Natur" —
sagt er — „keine Typen, sondern nur Individuen schafft
und das Wesen des Kunstgenusses phantasiemäßige Er-
zeugung der Natur ist, soll uns auch die Kunst nur
Individuen bieten". Nur das einzelne Charakteristische
hat für den Autor ein „Recht der künstlerischen Existenz".
Die großen Meister der italienischen Hochrenaissance
sind vom Boden der Natur durch das Studium der An-
tike und durch die „unheilvolle Wirkung des platonischen
Idealismus" abgedrängt worden. Sie blieben groß, „nicht
weil, sondern obwohl sie einem typischen konventionellen
Schönheitsideal nachstrebten". —„Unser Dürer aber war,
wie alle älteren deutschen Künstler, ein einfacher Realist."
Wie Lange somit entschieden der naturalistischen Kunst
das Wort redet, so weist er andererseits auch mit Fug
und Recht den leeren Einwand zurück, dass die Kunst,
welche nichts thue als die Natur nachahmen, eigentlich
eine Wiederholung der Natur, folglich überflüssig sei.
Der ästhetische Wert der Kunst beruht ja darauf, dass
sie „nicht Natur sein, sondern nur Natur vorstellen
will". Der Urmensch, das Kind, welche die ersten Nach-
bildungen des Wirklichen hinkritzeln, stellen sich dar-
unter ebenso wie die höchsten Meister unter dem voll-
endeten Werk ihrer Hände „phantasiemäßig die Natur
vor". Schultradition, historischer Stil, Konvention können
die Künstler wohl hemmen, ihnen gewisse Formen und
Ausdrucksweisen aufdrängen. Aber das eigentliche Ziel
aller großen Meister der „naiven Kunstepoche" bleibt
immer die möglichst treue Nachahmung der Natur, der
möglichst hohe Grad bewusster Täuschung. Wie ver-
schieden auch ein Raffael und Rembrandt, ein Velazquez
und Holbein, ein Michelangelo und Murillo sein mögen
— verschieden gemäß den Charakteren ihrer Zeiten und
Völker, — so stehen sie doch in dem Einen, worauf es
bei der Kunst ankommt, alle einander gleich: „in der
Kraft des Genius, innerhalb der durch das Wesen der
Kunst gezogenen Grenzen den höchsten Grad der Illusion
zu erzeugen." Es kann dies eine Illusion der Natur-
vorstellung sein, wie bei Menzel, oder eine Illusion der
Stimmung, wie bei Böcklin. „Beide tragen ihre innere
Berechtigung in sich, da sie mit dem Wesen der Kunst
übereinstimmen, und es liegt nur in der Natur der Sache,
dass ein längeres und einseitiges Verfolgen der einen
zeitweise eine Reaktion im Sinne der anderen zu Folge
haben muss."

Wir sind den Auseinandersetzungen Lange's in so
eingehender Weise gefolgt, weil wir seine Grundideen
 
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