Overview
Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 7.1896

DOI article:
Feld, Otto: Bing's "L'art nouveau"
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.5774#0229

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
445

Bing's „l'Art nouveau".

446

Stande war — einen organisch dem Ganzen sich fügen-
den Schmuck — hat man ohne jeden ornamentalen
Schmuck aus mageren, bald geraden, bald ein wenig
gebogenen, hie und da ein wenig verdickten Holz-
leisten die Gestelle der Gerätschaften gefügt. Wären
die verschiedenen Stühle und Bänke und Sophas u. s. w.
nicht mit Stoff bekleidet oder mit Kissen belegt, so
würde man glauben, sie warten noch der Hand, die sie
vollenden soll. Wie sie da sind, sollen diese mageren
Dingerchen wohl ein Protest gegen die traditionellen
und oft ja sicher geschmacklosen Verzierungen sein, die
unsere Tischler gewöhnlich anbringen, sind aber leider
so nur — ein Armutszeugnis.

Der Gedanke, der hier zu Grunde zu liegen scheint,
ist, wenn auch nicht neu, an sich so übel nicht. Von
aller unorganischen Zierat befreit, sollen die Gerät-
schaften nur ihre Bestimmung in ihren Formen zum
Ausdruck bringen, soll jeder fremde d. h. jeder alte Stil
vermieden werden, um sie zu schmücken. So hofft man
gewissermaßen den Kaum zu schaffen, auf dem der „neue"
Stil der „neuen" Kunst sich äußern könne. Dieser
neue Stil! Wieviel thörichte Versuche sind schon ge-
macht worden, um ■— so recht unsere Zeit kennzeichnend
— gewaltsam, eiligst herbeizuführen, was doch nur
ganz allmählich, ganz langsam, ganz organisch sich ent-
wickeln kann. Man will mit Vorsatz schaffen, was nur
als der unbewusste Ausdruck der Zeiten sich bildet. Ich
fürchte, der Stil unserer Tage ist und wird bleiben —
die Stillosigkeit. Die Ratlosigkeit, das Suchen und
Tasten nach allem Möglichen, das durch unsere Zeiten
geht, kommende Geschlechter werden es wohl auch aus
unserer Kunst und unserem Kunstgewerbe, als bezeichnend
für unsere Epoche, herauslesen. Das ist schmerzlich,
aber nicht so schlimm, wie man gemeinhin glaubt an-
nehmen zu müssen. Man darf sich eben nur der Er-
kenntnis nicht verschließen, dass verschiedene Zeiten
verschiedene Aufgaben zu erfüllen haben. Die unsere
scheint anderen als künstlerischen gewidmet zu sein —
intellektuellen. Der Befreiungskampf der Geister, den
wir miterleben, muss erst zu Ende gekämpft werden,
die neuen Ideen, die sich ans Licht drängen wollen,
müssen für immer zurückgedrängt werden oder zum
wirklichen Siege gelangen, wir müssen wieder haben,
wonach wir jetzt ringen — eine einheitliche, allen giltige
Weltanschauung, dann wird ein glücklicheres Geschlecht
der künstlerischen Früchte sich erfreuen dürfen, die der
Sommer der geistigen Keife bringen wird!

Für uns gilt es, wachsam den Boden bereiten, auf
dem jene ernten werden. Eine schwere aber segens-
reiche Aufgabe! —

Ob diese erfüllt wird, wenn man einem neuras-
thenischen Geschmack schmeichelt, der, von der Überfülle
von Genüssen geschwächt und ermüdet,. nun in einer ge-
suchten Einfachheit einen neuen Kitzel verlangt?! — Denn
um anderes handelt es sich hier nicht. Die Bestrebungen,

die wir hier sehen, laufen parallel mit jener neuesten
Modekrankheit, die mit dem Gefallen an einer primitiven
Kunst kokettirt, deren keusche Reinheit den hysterischen
Seelen ihrer fin de siecle-Bewunderer doch so unendlich
fremd ist und fremd bleibt. Eine neue Mode — die
vielleicht bald durch eine andere wieder abgelöst wer-
den wird.

Der Raum fehlt hier, weiter darauf einzugehen. Er-
wähnen wir die schöne Wandbekleidung und noch Por-
tieren des nächsten Raumes, in hellgrauem Sammet, in den
mit Säure dunkle Blumenmuster in gefälliger Zeichnung
eingeätzt sind, und werfen wir einen Blick in den letzten
Raum, wo auf grauer Tuchbekleidung schmale hellgelb-
seidene Vorhänge angebracht sind, auf denen in zarten
Farben figürliche Darstellungen gemalt sind, und wandern
wir hinunter in das Erdgeschoss, in dem in einem hellen
dreifensterigen Saal wie im Lichthof zumeist eine Sonder-
ausstellung von Werken eines lebenden Künstlers uns
bereitet ist. Wir haben hier schon sehr interessante Kol-
lektionen vorgeführt bekommen, die Arbeiten Meunier's, Le-
grand's und anderer. Gegenwärtig finden wir hier eine
Keihe von Studien und Bildern des Malers Eugene Carriere.

Eine eigenartige Kunst tritt uns hier entgegen,
reizvoll, geheimnisvoll, melancholisch! In einem grauen
Nebel schwimmen die Gestalten; mehr wie Schemen denn
wie Menschen von Fleisch und Blut, tauchen sie vor
uns auf, wie Erinnerungsbilder, die in stiller Dämmerung
vor uns hintreten. Mit ernsten Augen schauen uns diese
Köpfe an, um die Mundwinkel zuckt es wie in stillem
Schmerz; müde Menschen ruhen in weichen Kissen, schlanke,
weiße, überzarte, nervöse Hände leuchten aus der Dämme-
rung, blasse Kinder lächeln schmerzlich unter dem weichen
Mutterkuss. Eine melancholische Trauer liegt über diesen
Figuren; sie leben in schmerzlichem Sinnen in einem
Traumlande, in dem die helle Sonne nicht scheint, die
Vögel nicht lustig zwitschern, kein fröhliches Menschen-
lachen aus heller Brust erklingt, in dem die Blumen
nicht farbig und leuchtend und bunt sind und der Himmel
nicht blau, in dem nicht Hass noch liebe in heißen
Menschenherzen glüht, nicht brennender Schmerz noch
stürmisches Verlangen, in dem nur eine stille Resignation
die Seelen füllt und die Luft ein leise klagendes Klingen!
— Alle Formen verschwimmen, nur hie und da tauchen
einmal eine helle Hand, eine weiße Stirn, ein paar
dunkle Augen aus den blassen, grauen, müden Tönen
auf, die ganz selten ein zartes Rosa unterbricht. Aber
eine Meisterhand weiß in diesen verschwimmenden Flecken
uns die Erinnerung an die vollen Formen zu wecken,
und ein unendlich feines Abwägen der zarten Töne lässt
uns die vollere Farbe in diesen Bildern kaum vermissen.
Nur ein Accord, — aber dieser von hoher Schönheit und
Reinheit, nur eine Seite aus dem reichen Buche des
menschlichen Seelenlebens, — aber diese inhaltsreich
und gedankentief. Nur ernste sinnende Menschen finden
wir* in den Porträts, aber wir können ihnen bis auf den
 
Annotationen