Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstwart und Kulturwart — 33,1.1919-1920

DOI Heft:
Heft 2 (2. Oktoberheft 1919)
DOI Artikel:
Anders, Ernst Imm.: Neuere Dramen 2
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14436#0087

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
geheißen; in der Tat, hier wirkt nicht Geschehnis als tzauptsache, sondern
das Erscheinen der Götter, die höchstpersönilich die Bühne betreten: Athene,
Zeus, Hennes; auch eine Eumenide, Persephone und Charon werden
bemüht. Sogar ein Toter wird auf offener Bühne wieder iebendig, und
der Schlußteil spielt im Hades. Und warum das alles? Lin kranker,
sinnverwirrter aber heroischer Tyrann sucht den Sinn des Daseins in wild-
gewaltigen, vermessenen Taten. Zu Entsetzlichem läßt er sich hinreißen, aber
schon spricht die zürnende Gottheit ihren Spruch. Und nachdem Tantalus in
der einzigen sehr menschlichen und blutvollen, erschütternden Szene des
Ganzen seine unsäglich treue Gattin noch einmal entwölkten Sinnes er--
kannt und umarmt hat, begegnen wir ihm wieder in der bekannten, von den
Göttern höchst raffiniert erdachten Dauertortur. Fünfte Erscheinung: Unter-
welt. Neben Tantalus werden alle obligaten Sagengestalten kurz vorge--
führt: Ixion, Sisyphus, die Danaiden, Persephone . . . Schließlich er--
scheint Tantalus' Gemahlin, auch diesmal wieder einfache Menschlichkeit
des Geschehens erzwingend und dadurch den Ernst des Lesers und sein Herz
berührend; sie hat lebend die grause Fahrt gewagt, wie einst — oder
später? — Odysseus, Alkestis, Orpheus, und durch mitleidig-mutige Tat
befreit sie so Tantalus wie alle andern. Nnd was will das Ganze?
Ich gestehe, daß ich das nicht weiß. Stimmungen werden in sein gespon--
nen Worten festgewoben, Erschütterungen stürzen sich aus qualenreichen
Ergüssen und furchtbaren Taten auf den Leser, Dilder von inniger reiser
Schönheit leuchten auf, der nieversagende Äpparat unvergänglicher antiker
Vorstellungen, die hier recht handfest gepackt wurden, weckt alle Griechen--
träume in uns, und orphische Worte greifen irgendwie an unser Inneres.
Deute es, wer kann. Nnd doch, um ohne jegliche Ironie zu reden, ein
irgendwie Echtes und so--und-nicht-anders-Gemußtes ist auch in diesem
szenisch gestalteten Halbtraum. Vorurteillos angeschaut, beweist das Werk,
daß, auch ohne rational faßbaren Kern, musikähnlich „gesetzte" Worte
einer magisch seltsamen Wirkung fähig sind.

Wir irren wohl nicht, wenn wir die „Sturm"-Männer, die trotz des
inzwischen gegründeten „Orkans" noch rege sind, zu den vielbesprochenen
Expressionisten rechnen. Wir bilden uns danach ein, auch das Anrecht
aus eine durchaus neue Gesinnung und ein neues künstlerisches Woklen zu
haben, wenn uns Gerichte aus der Sturm-Küche aufgetragen werden, und
besonders, wenn sie vom Fühver der Sturm-Männer, von Herwarth
Walden stammen. Seine Tragödien „Kind" und „Menschen" und seine
bürgerliche Komitragödie „Trieb" (sämtlich im Verlag Der Sturm, Berlin
(9(8) bereiten solcher Erwartung eine Enttäuschung, wobei fraglich bleibt,
vb das angenehm oder betrüblich ist. Iedensalls, Walden zeichnet ganz
wie frühere „Realisten" Berliner Typen von heute, nicht mit phono-
graphischer Genauigkeit, eher etwas „typisiert", gelegentlich durch eine scherz-
hafte Antithetik den Fluß der Alltagsprache unterbrechend, aber immer-
hin nach Nmriß und Ausfüllung klar erkennbar. Seine Teilnahme gilt,
wie dies bei Früheven ebenfalls vorgekommen fein soll, ganz vorwiegend
dem erotischen und sexuellen Triebleben dieser Leute, und er läßt sie zumeist
mit einer Offenheit und Einseitigkeit über ihre Triebe und fast nur über
sie reden, ihren Trieben und fast nur ihnen nachleben, welche ängstliche
Gemüter erschrecken und gebildetere Geister langweilen wird. Aber sei
dem wie ihm sei, die knappe, gedrängte Bildung der Auftritte, die rasche
Aufeinanderfolge der „inneren" Entwicklungen und äußeren Handlungen

6(
 
Annotationen