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Kunstwart und Kulturwart — 33,1.1919-1920

DOI Heft:
Heft 2 (2. Oktoberheft 1919)
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Anders, Ernst Imm.: Neuere Dramen 2
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https://doi.org/10.11588/diglit.14436#0088

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verleihen den kleinen Stücken eine kinoartige Wirkung, der sich mancher
nicht ganz entziehen mag. Das Thema „Dsr Wensch als primitives Trieb--
wesen" wird hier wieder einmal nrit einiger Kraft aufgegriffen.

Von Walter Hasenclevers Schauspiel „Die Menschen" setze ich
die ganze erste Szene hierher. „Friedhof. Abendröte. Ein Kreuz fällt
um. Alexander: steigt aus dem Grabe. Der Mörder: kommt mit dem Sack.
Alexander: erschrickt. Der Mörder: „Ich habe getötet!" reicht ihm den
Sack. Alexander: streckt die Hand aus. Der Mörder: „Der Kopf ist im
Sack", geht zum Grabe, steigt hinein. Alexander: wirft Erde über ihn.
Windstoß. Die Kapelle wird hell. Der Iüngling. Das Mädchen. Der
Iüngling: „Wer ist da?" Das Mädchen: „Ein Leichnam", wird ohnmächtig.
Der Iüngling: „Mörderü!" Alexander: „Ihren Mantel". Der Iüngling:
nimmt den Mantel von seinen Schultern. Alexander: bedeckt sich. Der
Iüngling: „Wer sind Sie?" Alexander: „Ich lebe", nimmt den Sack über
die Schultern, geht. Das Mädchen: erwacht. Der Iüngling: umarmt sie.
Dgs Wädchen schreit: ^„Ich hab Dich bstrogen!" Es folgt die zweite
Szene. Auf die erste entfallen, wie man sieht, fünfundzwanzig gesprochene
Worte. So geht es auch weiter. Trotzdem nimmt diese Pantomime mit
Stichworten im Druck mehr als hundert Seiten ein — wir müssen doch
noch viel Papierüberfluß haben. Was will der Verfasser? Da es zwar nicht
sehr mühsam ist, aber doch immerhin einige Tage Schweiß kostet, sich
eine Fokge von Schauerkinobildern auszüsinnen und einigen Figuren ab
und zu einige Schreie und Mitteilungen in den Mund zu legen, muß
angenommen werden, daß er tatsächlich etwas will. Soviel ich weiß, bin
ich vier Iahre älter als Hasenclever; ich gehöre also einem setzt bereits
vergreisenden Geschlechte an und erkläre es mir damit, daß ich wieder
nicht weiß, was er will. Erfreulicherweise klärt der Verlag Paul Cassirer,
der das Buch für sechs Mark herausgab, den KLufer auf: „Auf den
ersten Blick blendet die unerhörte, kühne Neuheit der Gestaltung, die
für die Bühnen ein ungewöhnliches, aber lohnendes Experiment bedeutet.
Doch ist der innepe Wert der Dichtung größer. Die packende, wortkarge
Form ist erfüllt von der Leuchtkraft tiefen Gefühls. Die Gestalt des lieben-
den Erlösers, mit fremder Schuld beladen, durchschreitet das Werk, sein
Weg führt durch die ganze Welt. Szenen von Liebe, Mord, Armut, Laster,
Spiel und Gemeinheit tauchen grell, wie nackt ins Licht. Bildhaft ge°
schaut das Ganze, von einer Stärke der Vision und einem Willen zur
Menschenliebe, die etwas Hinreißendes hat. Wachzurütteln war von jeher
dis Aufgabe der Propheten. Hasenclever fühlt sich Prophet einer Moral
und er rüttelt wach. Darin liegt sein eigentlichster Wsrt." Fraglich bleibt
nur, in welche Richtung der Prophet die Wachgerüttelten drängt. Ich
habe den sehr deutlichen Eindruck, daß es gar keine Richtung ist, sondern
daß er sie nur rüttelt. Wenn sie sehr schwache Nerven haben, werden
sie dann nach vollzogener Nerven-Massage wegen Äberreiztheit eine Heil--
anstalt anfsuchen. Stärker Veranlagte werden sich der Behandlung recht-
zeitig entziehen und den Dichter-Rüttler am Phantom weiter rütteln lassen.
Im Ernst: es ist das Kennzeichen einer ganzen Gruppe der Neuesten, daß
sie weder Gedanken noch Zielvorstellungen, weder eigene künstlerische Absicht
noch Äberlieferung haben, sondern zwar „revolutionär", aber nur revolu-
tionär sind. Anders ausgefaßt: sie leiden an einer bedauerlichen Äberreizt-
heit und fühlen sich gedrängt, hiervon der Mitwelt durch eine Art
Notizensammlung über ihre Schreie und Verzückungen Kunde zu geben.

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