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Bibliotheca Hertziana [Hrsg.]; Bruhns, Leo [Gefeierte Pers.]; Wolff Metternich, Franz [Gefeierte Pers.]; Schudt, Ludwig [Gefeierte Pers.]
Miscellanea Bibliothecae Hertzianae: zu Ehren von Leo Bruhns, Franz Graf Wolff Metternich, Ludwig Schudt — Römische Forschungen der Bibliotheca Hertziana, Band 16: München: Schroll, 1961

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https://doi.org/10.11588/diglit.48462#0148

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GESTALTUNGSANREGUNGEN
AUF DIE LONDONER „VERKÜNDIGUNG“ DES CARLO CRIVELLI
von Gustav Künstler
Das große Verkündigungsbild in London (Abb. 90)1 nimmt, seines monumentalen Charakters wegen,
im Werk Crivellis eine Sonderstellung ein. Bezeichnenderweise hat dieses Monumentale nichts zu tun
mit der Verkündigungsszene selbst - ihr würde es inhaltlich eher widersprechen (wohl die einzige Aus-
nahme : Piero della Francescas Fresko in Arezzo) -, sondern nur mit der seltsamen Art, wie die Architektur
zur Geltung gebracht wird. Der Palast rechts: er ist so weit nach vorne gerückt, daß seine Pilaster auf
der schmalen, nicht annähernd das Maß einer quergelegten Gurkenfrucht erreichenden gemalten Vorder-
schwelle aufstehen und seine Vorderfront rechts und oben vom Bildrand scharf überschnitten wird;
die Straße links: sie stößt kräftig orthogonal in die Tiefe, merkbar weit, nämlich bis an die Stadtmauer,
ja bis in die freie Natur hinaus, die sich durch die über jene aufragenden Bäume anzeigt; und zwischen
Vorne und Hinten, scheidend und zugleich verbindend hineingeschoben, der in seiner Art römische
Triumphbogen, ein Sinnbild voll Wucht und Größe, - das ist Komposition, Komposition im reinsten Sinn
des Wortes, und wegen der lapidaren Gegensätzlichkeit ihrer Elemente monumental.
Im diametralen Gegensatz zu der vorgebrachten Auffassung steht jene ältere, die in dem Aussehen der
Stadt das Abbild der Wirklichkeit, eine Schilderung der damaligen Gegenwart erkennen möchte2.
Trotzdem schließen die beiden Auffassungen einander nur scheinbar aus, weil sich die zweite, mehr oder
weniger bewußt, auf Grund jener zahlreichen Einzelheiten bildete, die tatsächlich Züge der Wirklichkeit
schildern3. Was die das Bild bestimmende Architektur betrifft, so hat allerdings schon Drey4 in der
seither letzten Monographie über Crivelli vor dreißig Jahren geschrieben: „Die Architektur des Gebäudes
[des Renaissancepalastes rechts] entspricht sichtlich der erfinderischen Phantasie des Künstlers, denn
weder in Venedig noch in anderen reichen Städten Italiens, am wenigsten aber in den ärmlichen Marken,
mag je ein ähnlicher Prachtbau als Vorbild gestanden haben . . .“ Daß Crivelli nicht nach Architektur-
vorbildern, die in Wirklichkeit existierten, gearbeitet haben kann, ergibt sich allerdings am zwingendsten
aus seiner Sorglosigkeit gegenüber dem realen Sinn von Bauwerken oder gar der Tektonik. So läßt es sich
nicht zusammenreimen, daß das saubere, mit einer Bretterwand abgeschlossene Kämmerchen der
hl. Jungfrau in diesem prunkvollen Palast gelegen sein soll, oder daß das triumphbogenartige Bauwerk
nicht freizustehen scheint, sondern wie eine Galerie fungiert, welche die Häuser miteinander verbindet; ganz
besonders auffällig widerspricht dem Geist strenger Architektur jedoch der Umstand, daß an dem
Renaissancepalast rechts die Pfeilerordnungen in Erdgeschoß und Loggia nicht axial aufeinander bezogen
sind.
Sobald die Wahrscheinlichkeit von Anregungen aus der Wirklichkeit mehr und mehr schwindet und man
nicht allzu viel einzig der erfinderischen Phantasie des Malers zuschreiben möchte, beginnt man not-
gedrungen, sich nach anderen Möglichkeiten umzusehen. Die zunächst gelegene und offensichtlich
1 Das auf Pappelholz gemalte Bild von 1486, Nr. 739 der National Gallery, mißt 209:147 cm. Die beiden anderen bekannten
Verkündigungsdarstellungen Crivellis — zwei Tafeln des Polyptychons von 1468 in der neuen Pfarrkirche von Massa Fermana
(Abb. 91, 92) und zwei im Städelschen Kunstinstitut in Frankfurt a. M. (Abb. 93, 94), zu dem Triptychon von 1482 der Brera in
Mailand gehörig — sind schon deshalb viel kleiner (je zwei Tafeln gleich: 37:19 cm und 54:38 cm), weil sie bloß als Altar-
krönung zu dienen hatten. Jedoch auch unter den insgesamt neun Werken Crivellis in der National Gallery, welche die verschie-
densten Formate aufweisen, bleibt die „Verkündigung“ das größte.
2 Wilhelm von Bode, Die Kunst der Frührenaissance in Italien (Propyläen-Kunstgeschichte VIII), Berlin 1923, S. 138: ,, . . . die
,Verkündigung1 in der National Gallery, die den Blick in ein Frauengemach mit sauberster Ausstattung und den Ausblick in eine
enge Straße Venedigs zeigt, wie sie selbst Carpaccio nicht getreuer und malerischer geschildert hat.“
3 Philip Hendy in dem Farbtafelwerk „The National Gallery London“, London 1955, p. 58: „Crivelli painted only religious
subjects. But in his hands the religious picture took on the most mundane and amusing look. The carpenter’s house at Nazareth
has become the most ornate block in a sumptuous palace of the latest style . . . For the Feast of Annunciation the plant-pots
and the bird-cages have been put out and the rugs hang over the parapet, and the peacock hangs his golden tail from the cornice
over the Virgin’s room . . .“ Und weiter ist die Rede von „that loving depiction of still-life on the shelf over the Virgin’s luxurious
bed, under the coffered ceiling, and of the fruit-bitter and sweet—offered in the very front of the picture“. Was allerdings die
Früchte betrifft, Apfel und Gurke oder Kürbis, so hat man sie im Sinne hieroglyphischer Renaissance-Allegorien wohl als Zeichen
für Verführung und Vergänglichkeit zu verstehen.
1 Franz Drey, Carlo Crivelli und seine Schule, München 1927, S. 76.
 
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