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Bibliotheca Hertziana [Hrsg.]; Bruhns, Leo [Gefeierte Pers.]; Wolff Metternich, Franz [Gefeierte Pers.]; Schudt, Ludwig [Gefeierte Pers.]
Miscellanea Bibliothecae Hertzianae: zu Ehren von Leo Bruhns, Franz Graf Wolff Metternich, Ludwig Schudt — Römische Forschungen der Bibliotheca Hertziana, Band 16: München: Schroll, 1961

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https://doi.org/10.11588/diglit.48462#0422

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GUARINI

Zur Kennzeichnung seiner Architektur
von Werner Hager
In der Entwicklung, die die Architektur des Barockzeitalters einer Spätphase zuführt, worin sich die
verinnerlichte Richtung ihres Entwurfs vollendet, nimmt das Werk des Theatinerpaters Guarino
Guarini1 eine Schlüsselstellung ein. Vorwiegend in Piemont, das heißt auf halbem Wege zwischen Rom
und den transalpinen Ländern tätig, hat dieser Meister in der Nachfolge des römischen Barock eine
Baustruktur entwickelt, aus der ein halbes Jahrhundert später der bewegte Lichtraum Balthasar
Neumanns und Michael Fischers hervorgehen sollte. Guarinis Wirkung wird schon um die Jahrhundert-
wende bei Hildebrandt, Fischer von Erlach und den Dientzenhofern sichtbar2. Mit eigenen Augen aber
haben diese Meister wohl kaum die wenigen, abseits der Hauptstraßen zum Süden stehenden Bauwerke
des Turiner Hofingenieurs gesehen, die ein ruheloses, von Mißgeschick verfolgtes Leben diesem zu
vollenden erlaubt hatte. Was sie vor sich hatten, waren vielmehr die 1686 posthum erschienenen Tafeln
der ,,Disegni d’Architettura Civile“3, eine Sammlung von Rissen, Schnitten und Ansichten nach Inven-
tionen Guarinis. Das Werk enthält in der Hauptsache Kirchenbauten, unter denen wieder die Zentral-
anlagen überwiegen; ausgeführt ist nur der geringere Teil, die Projekte tragen zu der in dieser Folge von
Baumodellen kommentarlos, aber in durchsichtiger Anschaulichkeit vorgeführten Systematik von
Baugedanken das meiste bei. Es ist ein kombinatorisches System aus beweglichen Elementen, rational
strukturiert und daher nicht an Nachahmung gebunden, sondern zu selbständiger Weiterbildung geeignet.
Die Erfindungskraft der Deutschen entband es zu einem Leben von ungeahnter Fülle. In Italien faßte
es dagegen außer in Piemont nirgends Fuß, und der Klassizismus hat Guarini in Acht und Bann getan4.
Abseits stehend und lange verkannt, hat das von ihm Ausgeführte dennoch unter dem Besten der
italienischen Architektur seinen Platz; das von ihm Erdachte wurde zum Ferment in den europäischen
Stilsynthesen der Folgezeit.
Guarinis Modelle gehen in ihrer vielfältigen Abwandlung wie aus einer Kernformel hervor. Sie sind, wie
längst erkannt5, aus ,,Zellen“ von verschiedenartiger Form und Zusammenstellung gebildet. In abstrakter
1 Camillo, gen. Guarino Guarini, geb. Modena 1624, tritt mit allen seinen Brüdern in den Theatinerorden ein. Noviziat in Rom
und Priesterweihe 1639—1647, Modena 1647—1655. Vom Herzog verbannt, geht er als Professor der Philosophie und Mathematik
an das Ordenshaus in Messina. Zunehmende Bautätigkeit; die Werke in Messina vom Erdbeben vernichtet. 1662 im gleicher
Stellung nach Paris, beginnt den Bau von Ste.Anne-la-Royale am Quai Malaquais; die Kirche nie vollendet, Reste abgerissen.
1666 in Turin, übernimmt den begonnenen Bau von S. Lorenzo; 1667 herzoglicher Ingenieur und beauftragt mit der Fortführung
der Cappella del S. Sudario (S. Sindone) am Dom. Ab 1678 im Dienst Emanuele Filibertos von Savoyen-Carignano, Präpositus des
Ordenshauses. Rege Bautätigkeit für Orden und Hof; errichtet das Collegio dei Nobili der Jesuiten und den Palazzo Carignano.
Von seinen nach auswärts gelieferten Projekten wenige und keines sinngemäß ausgeführt. 1681 zurück nach Modena, tätig am
Palazzo Ducale. Stirbt 1683 beim Besuch seines Verlegers in Mailand. G. verfaßte außer dem posthum erschienenen Architektur-
traktat und einem Lehrbuch des Festungsbaus eine ansehnliche Reihe philosophischer, astronomischer und mathematischer
Schriften.
Die ältere Literatur bei Bricarelli in Thieme-Becker, Künstlerlexikon, XV, 1922, S. 174. - A. E. Brinckmann, Die Baukunst
des 17. u. 18. Jhs. in den roman. Ländern, (5. Aufl.) 1930; Theatrum Novum Pedemontii, 1931, mit Rez. v. G. C. Argan, Ztschr.
f. KG. 1932, S. 233; Von G. zu B. Neumann, 1932; La grandezza di G. G. e la sua influenza sull’arch. in Germania nel’700. Atti
d. Soc. Piem. di Archeol. e Belle Arti XV, 1933, S. 348. - W. Hager, G. (Vortragsbericht), KChr. 1954, S. 266. - D. R. Coffin,
Padre G. G. in Paris. Jour, of the Soc. of Arch. Historians (Univ, of Virginia) XV, 1956, S. 3. — P. Portoghesi, G., Slg. Astra
Arengarium, 1956, mit Bibi.; II tabernacolo guariniano dell’altare maggiore di S. Niccolö a Verona. Quad. dellTst. di Stör, del-
l’Arch. XVII, 1956, S. 16; L’architetto G., Civiltä delle Macchine IV, 1956, S. 57; G. a Vicenza. La chiesa di S. Maria d’Araceli.
Crit. d’Arte 1957, S. 108 u. 214. Paolo Portoghesi hat die Guariniforschung nicht nur durch gründliche Einzelbeiträge neu ange-
regt, sondern auch als erster die Bedeutung G.s in vollem Umfang erkannt und ausgesprochen. — W. Hager, G.s Theatiner-
fassade in Messina. Festschrift für H. Schrade (in Vorbereitung), S. 230.
2 H. G. Franz, Die Kirchenbauten des Ch. Dientzenhofer, 1942. - W. Hager, Zum Verhältnis Fischer-Guarini, KChr. 1957,
S. 266. 3 Disegni d’Architettura Civile et Ecclesiastica inventati e delineati dal Padre
D. Guarino Guarini dei Chierici Regolari Teatini, Matematico dell’Altezza Reale di Savoia. In Torino 1686. - Mit Text und Tafeln
des Traktats zusammen erschienen diese Tafeln unter dem Titel: Architettura Civile del Padre Don Guarino Guarini Chierico
Regolare, opera postuma dedicata a Sua Sacra Reale Maestä. In Torino 1737. (Im Folgenden zitiert als AC).
4 Milizias Verdammungsurteil, Le Vite de’ piü celebri Architetti, Rom 1768, S. 379.
5 A. E. Brinckmann, a. a. O. - H. Sedlmayr, Die Architektur Borrominis, 1930, S. 101.
 
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